Multimedia

Mit der Kreation dieses Schlagwortes wurde ein Milliarden-Dollar- Markt eröffnet.
Aber was bedeutet Multimedia eigentlich? In wieweit wurde Multimedia verwirklicht?

Neulich, in der Beilage eines bekannten, überregionalen Nachrichtenmagazins:

"Wer richtig durchstarten will, braucht vor allem eins: Power...... wirbt eine große Computer-Discountkette und bietet auf Seite zwei ein "Multimedia Notebook" an.

Mord in den Vereinigten Staaten:

Ein bekannter Football-, Film- und Medienstar bringt seine Ex-Frau (angeblich) samt Liebhaber "um die Ecke" kurze Zeit später kann Otto- Möchtegern-Killer die Tat auf dem heimischen PC mittels CD-ROM "nachspielen".

Anzeige in einer "Multimedia"-Fachzeitschrift:

"Erotik-CD - Das sind wir! 'WINjoy' The Art of Erotainment"; auch Beate Uhse setzt für ihre Produkte mangels sonstiger, umsatzträchtiger Marktsegmente voll auf die "Silberlinge" - und damit auf (zumindest finanziell) potente Computerfreaks.

Multimedia:

Virtuelle Realität für den ultimativen Nervenkitzel, nachdem Reality-TV versagt" hat? Puff-Emulatoren als Aushängeschild einer kleinen technischen Revolution? Oder vielleicht doch nur viel Lärm um gar nichts?
Ist die Compact-Disc das zukünftige Computer-Medium schlechthin - oder lediglich sinnentleertes, garantiert Werte-freies Identifikationskonsumgut einer verbrauchsgeilen Gesellschaft, die außer dem "Ich-Ideal" keine Orientierung mehr findet?
Ist unsere Gesellschaft, sind wir alle "multimedial": auf jeden Fall schön verpackt - aber mit welchem Inhalt?

Was ist Multimedia?

Bevor dieser Bericht diese Frage nicht im Entferntesten oder gar endgültig beantworten kann, will ich die multimediale Plattform, um die es hier gehen soll, erläutern.
"Multimedia" ist in diesem Artikel als die Verknüpfung der "klassisch-analogen" Medien Grafik, Musik und Text zu einer Art (mehr oder minder) "informativem Entertainment" definiert. Solche Infotainment-Titel werden heutzutage zu 99 Prozent auf CD-ROM, dem idealen Datenträger für massenkompatibles Multimedia, ausgeliefert.
Es gibt natürlich viele nützliche, anwendungsbezogene Software, z.B. Computer Based Training oder Nachschlagewerke auf CD-ROM, die dem Wißbegierigen das Blättern in mehrbändigen, regalfüllenden Wälzern ersparen.
Solche Anwendungen schließe ich hier aber ausdrücklich aus; Ziel dieser Betrachtung ist einzig und allein der unterhaltende Infotainment-Sektor.

Die Softwareproduzenten haben also 65OMByte Speicher und freie Hand, neue Welten zu kreieren, in die nie ein Mensch zuvor vorgedrungen ist! Aber in welche Welten? Tatsache ist, dass die Erotikindustrie (wieder einmal) Vorreiter für das neue Medium spielt, betrachtet man die Anzeigen in auch halbwegs seriösen Fachzeitschriften. Sicherlich kein Grund, den moralischen Tod unserer Gesellschaft zu betrauern; aber es möge dennoch die Frage erlaubt sein, was "interaktiver" Computersex einem stinknormalem Erotikfilm, geschweige denn "richtig interaktiven", zwischenmenschlichen Beziehungen, voraus hat? Zugegeben, es gibt nicht nur zensurwürdige Infotainment-Software - dennoch sei allgemein die Frage nach der wirklichen Innovation in aktuellen Multimedia-Titeln gestellt:

Was gibt's Neues im Westen?

Prince, neudeutsch auch "Symbol" genannt, zum Beispiel: Er nutzt den Computer als "Interactive"-Spielplatz seiner Kreativität. Dennoch sprengt sein Werk das vorgegebene Korsett nicht: Der Konsument darf ab und zu klicken, worauf der Computer anstatt Song Nummero eins samt zugehöriger Animation die zweite multimediale Sequenz abfährt. Richtig intellektuell, nicht wahr?
Die "Monty Pythons" zum Beispiel: Anstatt den stilgerechten Mausgebrauch zu pflegen, ist im MM-Programm der englischen Komikertruppe das geliebte Klicken regelrecht verboten: "Hat dir jemand erlaubt, hier anzuklicken? Wer hat dir Oberhaupt gesagt, du dürftest hier klicken?" Auch ein Weg, allgemeine Trends zu revolutionieren: Sich gängigen Klick-Konventionen zu widersetzen, das Medium mit Sinnlosigkeiten vollkleistern.

Der Weg der Monty Pythons eben. Eingefleischte Fans werden begeistert sein. Der Rest ... ? Sinnlos!
Es steht außer Zweifel, dass solche CD-ROMs außergewöhnlich aufregend gestaltet sind:
Der Konsument startet das Programm und bekommt den Mund vor lauter Staunen so schnell nicht wieder zu.
Die Verpackung ist also in den meisten Fällen wunderbar gelungen. Nur: Die inhaltliche Konzeption aktueller Titel ist leider weniger innovativ neu, sondern eher interaktiv aufgepeppt, aber althergebracht: Aus Videoclips werden interaktive Videoclips; Lexika mutieren zu interaktiven Lexika; interaktive, rechnergestützte "Lehrer" sollen den Lehrer aus Fleisch und Blut ersetzen.

Die "Erfindung" der Erzählung in grauer Vorzeit hingegen bescherte der Menschheit eine wirklich revolutionäre Neuerung:

Das Kommunikationsmittel der Menschen schlechthin, die Sprache, wurde zum Übermittler antiker Tragödien, mittelalterlichen Heldenepen, neuzeitlicher Sinnsuche und düsterer Utopien, die uns durch Schriftrollen, Bücher und sonstige analoge Medien bis heute zugänglich sind. Der Film, Theater und sonstige Aufführungen wiederum erweiterten die Ausdrucksformen einer solchen Erzählung, indem sie den Dialogen eine - mehr oder minder - mächtige Bildwelt entgegensetzen - erwähnenswert sind stilbildende Werke wie "Citizen Kane".
Musik, andererseits, erweiterte die Kommunikationsmöglichkeiten, indem sie die Sprache mit Folgen von komplexen Schwingungen kombiniert, die Stimmungen, Gefühle, Konflikte, Spannungen und vieles mehr zum Ausdruck bringen. Ganze Generationen definier(t)en sich durch ihre Musik: In den Straßen von "San Francisco" meinen Freaks bis heute, Hippies herumgeistern zu hören; Techno empfinden nur wenige, vornehmlich der jüngeren Generation zuzuordnende Menschen noch als "Musik"...
Interaktion an sich, als das wirklich Neue an Multimedia, ist aber noch kein inhaltlicher, sondern eher ein formaler Fortschritt, der mit Inhalten gefällt werden muss, um die Bandbreite menschlicher Empfindungswelten erweitern zu können.
Wie langweilig wären Filme, würden sie nur einen Erzähler in einer einzigen Kameraeinstellung präsentieren, der aus einem Buch vorliest? Was fehlt, sind die wirklich neuen Konzepte, die den Betrachter aus der Rolle des nahezu passiven Konsumenten schrecken, ihn wieder zu eigenständigeren Mit-Denken animieren:

Die Möglichkeiten, die Computersysteme bieten, dem Kommunikationsmedium Sprache - egal, ob in gesprochener oder geschriebener oder visualisierter Form - einzuverleiben; das wäre das Rezept, um zu realisieren, was Generationen von Autoren zuvor auch getan haben: Ihre Träume, Visionen, ihr Leiden unter den gegebenen (gesellschaftlichen) Konventionen auf eine ganz spezielle und einmalige Art und Weise zu artikulieren.
Wo sich stilbildende Schriftsteller früher allein über die Sprache von ein gefahrenen Denkstrukturen lösten, können sich heute ambitionierte Autoren bereits über die Nutzung der neuen Medien vom Stil früherer Schriftsteller-Generationen deutlich abheben - Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki wäre zwar empört und würde den Untergang der "wahren" Kultur prophezeien, seine zukünftigen Nachfolger aber die gleichen Werke garantiert als Klassiker feiern. Es war schon immer so, dass die Propheten in ihrem eigenen Zeitalter nichts galten...

Voilà - und schon sind wir wieder bei der Generationsfrage:

Multimedia repräsentiert einerseits die heutige Jugendkultur, indem es deren Leitbilder - Videoclips, Filme und Computerspiele - mit entsprechendem inhaltlichen Gehalt imitiert. Die "Generation X' definiert sich eben - überspitzt und verallgemeinert dargestellt über eine bewusste, quasi als Verteidigungswaffe eingesetzte Konsumhaltung und eine Inhaltslosigkeit, die die Orientierungslosigkeit einer immer weniger durchschaubaren, voll technisierten Welt, die wohl jeder von uns manchmal empfindet, widerspiegelt. Wenn eine Generation allerdings die Inhaltsleere zum Stilprinzip erhebt, die Wertelosigkeit zum Wert an sich wird; darf man dann den Produkten, die Ausdruck dieser Lebenseinstellung sind, Wertlosigkeit unterstellen? Andererseits bietet Multimedia auch alle Möglichkeiten, selbst eine Jugendkultur nach der "Generation X", basierend auf dieser, zu begründen. Im Westen nichts Neues? Warten wir es ab - Die nächste Buchmesse kommt bestimmt!

S. Grimm

Quellen:
"FOCUS" 42194
"Der Spiegel" 38/94
"Der Spiegel" 43/94
"Screen Multimedia" 10/94



Aus: Atari Inside 03 / 1995, Seite 15

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