Editorial - Wenn nette Zeitgenossen sich an der Börse versuchen

Wenn ich mal wieder etwas mehr Öffentlichkeit geboten bekommen möchte, als es das einsame Dasein vor dem Computer-Monitor bietet, treibe ich mich meist auf Partys, in Restaurants und Kneipen oder in Sportzentren herum - eben dort, wo man zumeist über alles mögliche quatschen kann, nur nicht über Computer. Konnte ich hier noch vor wenigen Jahren bei so profanen Themen wie dem Leistungsstand der deutschen Fußball-Nationalmannschaft und der Tiefe der moralischen Abgründe deutscher Politiker ohne weiteres mithalten, gerate ich unfreiwillig in letzter Zeit immer mehr in eine wissensbedingte Isolation. Spätestens das Auftauchen von Telekom, T-Online und Gelber Post gab den Startschuss für die Veränderung oftmals ganz sympathischer Zeitgenossen zu scheinbar ausgefuchsten Börsenprofis. Und bei diesen Themen stehe ich dann meist nur erstarrend vor Ehrfurcht neben den neuen „Fachleuten“.

Der „kleine Mann von nebenan“ will im Zeitalter des Sozialabbaus und der unsicheren Renten im Konzert der Grossen mitspielen und begeistert sich für den Kauf von Aktien. Und von Presse und Banken bekommt er einvernehmlich vorgesungen, dass die „Technologie-Werte“ die höchsten Gewinne versprechen. Und das macht für den angehenden Hobby-Broker Sinn, denn nichts erscheint doch so zukunftsträchtig wie die Computerindustrie, oder?

Nun beginnt der Bart der Weisen aus den Finanz-Tempeln langsam aber sicher zu zuckeln. Das durch den Erfolg des iMac mal wieder zur Lichtgestalt aufgestiegene Unternehmen Apple musste vor kurzem genau wie der ach so „freakige“ Emporkömmling Yahoo! zähneknirschend eingestehen, dass die „Erwartungen nicht im erwarteten Maße übertroffen“ wurden. Wer hinter dieses Meisterwerk der erwartungsfrohen Formulierungskunst schaut, dem wird schnell klar, dass er eigentlich gar nicht mehr soviel zu erwarten hat. Sobald sich die Goldesel von einst auf das Eis der eiskalten Börse begeben, rutschen ihnen eher heute als morgen alle verfügbaren Beine weg, weil sich auch im Computer-Business rasante

Wachstumszahlen nicht ewig verdoppeln und verdreifachen lassen. Hinzu kommt, dass sich nun beweist, was in Boomzeiten niemand hören wollte: Wie man mit Internet und E-Commerce Geld verdient, weiß eigentlich immer noch niemand so richtig. Kleinaktionäre werden nun von ihren Bankberatern beschworen, Ruhe zu bewahren, während ihr Geld sich selbständig macht. Von denselben Banken und Fondsmanagern bekommen sie aber panikartige Verkäufe vorgelebt.

Die Zeiten des Wirtschaftswunders sind auch in der Hightech-Industrie vorerst vorbei. Eine gute Seite hat das ganze: Vielleicht kühlen sich einige Gemüter wieder ab und wenden sich alltäglicheren Dingen zu - und vielleicht kann ich dann schon bald wieder mit meinem Wissen über die Nationalmannschaft und abstrusen Theorien über unsere Polit-Prominenz auf Partys beeindrucken.


Thomas Raukamp
Aus: ST-Computer 01 / 2001, Seite 5

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