Vielseitig: die Gesichter des STs

Wer sich heute für einen bestimmten Computer entscheidet, sucht Fakten, um seine Entscheidung zu begründen. Das geschieht oft folgendermaßen: Am besten sollten Programme, die man von der täglichen Arbeit kennt, auch auf diesem Gerät den Dienst verrichten. Dies bedeutet für »Büromenschen« in der Regel, daß man sich für einen zum Industriestandard kompatiblen Rechner entscheidet. An Universitäten, seit kurzem auch vereinzelt in Büros, arbeitet man häufig mit Unix und seinen Ablegern wie OS-9.

Wer möchte sich schon gerne umgewöhnen, dicke Handbücher wälzen und viel Zeit vergeuden, um Installationen von neuen, unbekannten Programmen durchzuführen?

Oft ist auch folgende Situation wichtig bei der Entscheidung für oder gegen ein System: Nach jahrelanger Arbeit mit einem Computer, zum Beispiel einem CP/M-Gerät, stellen Sie fest, daß Ihre EDV-Anlage dem täglichen Pensum nicht mehr gewachsen ist. Ein leistungsfähigerer Computer, der sich gegebenenfalls auch an neue Anforderungen anpassen läßt, muß her.

Sicher sagen Sie jetzt: »Einen Universal-Computer, der für jeden potentiellen Käufer geeignet wäre, gibt es nicht.« Bietet sich allerdings die Gelegenheit an einem Computer zu spielen, der unter einem anderen Betriebssystem arbeitet oder eine neue Benutzeroberfläche bietet, so sagt kein Interessierter nein.

Eine gute Wahl ist also ein Computer, der auf Wunsch in unterschiedliche Rollen schlüpft. Finde ich als Anwender ein tolles Programm, das eben nur unter Ataris TOS lauffähig ist, dann arbeite ich eben unter TOS. Da es aber beispielsweise für den Atari ST noch keine Tabellenkalkulation gibt, die auch nur annähernd so viel bietet wie Excel auf dem Macintosh, so lade ich eben einen Macintosh-Emulator und starte Excel. Dieser Faden läßt sich noch beliebig weiterspinnen. Also nicht nur Kompatibilität ist Trumpf, sondern Vielfalt. Ein Emulator ist ein Programm, das dem Anwender mit speziellen Programmroutinen ein anderes Betriebssystem vorgaukelt oder, wie bei den Macintosh-Emulatoren, die jeweiligen Betriebssysteme auf einem anderen Computer lauffähig macht. Anwender, die ihre gewohnte Arbeitsumgebung nicht gegen TOS und GEM tauschen wollen, besorgen sich einfach das Betriebssystem ihrer Wahl. Dies eröffnet dem ST Chancen bei einem sehr günstigen Preis /Leistungsverhältnis, die andere Systeme nicht bieten.

Emulation ist also scheinbar ein wahres Zauberwort für die Computerwelt. Man kauft sich einen Computer und nutzt die Vielfalt von vielen.

Wodurch unterscheidet sich ein Emulator von einem Betriebssystem? Die Grundidee zur Emulation geht bis auf den englischen Mathematiker Alan M. Turing zurück. Er bewies 1947, daß man mit einem geeigneten Programm jeden Computer dazu bringt, sich so zu verhalten, wie ein beliebiger anderer. Läuft auf einem ein Programm, das einen anderen Computer nachbildet, nennt man diesen Vorgang Emulation.

Schwierig wird die Bereitstellung von Emulatoren erst, wenn eine realistische Geschwindigkeit des emulierten Computers gefordert ist. Ein Emulator arbeitet ähnlich wie ein Interpreter. Eine eigene Befehlssequenz bildet jeden emulierten Maschinenbefehl nach. Der Atari ST besitzt als Herz einen mit 8 MHz getakteten Motorola 68000-Prozessor.

Diese CPU verfügt über einen 16 Bit breiten Datenbus. Intern arbeitet der 68000 sogar mit 32 Bit-Registern. Damit ist er leistungsstark genug, artfremde 8-Bit-Computer, wie zum Beispiel Systeme, die auf einem Z80 Prozessor von Zilog basieren, ohne nennenswerte Geschwindigkeitseinbußen rein softwaremäßig nachzubilden. Damit nicht genug, in einen für den ST angebotenen Z80-Emulator wurde auch gleich das für diesen Prozessor verbreitetste Betriebssystem CP/M integriert. Ohne Betriebssystem ist jeder Computer nur »ein Stück dummes Blech«. Erst ein Betriebssystem verleiht ihm die Gabe, überhaupt einen Befehl ausführen zu können. Man könnte das Betriebssystem auch als den »Manager« des Computers betrachten. Es organisiert die Vorgänge im Inneren des Rechners und sorgt dafür, daß alles wie geplant abläuft. Nach dem Laden des Betriebssystems stehen alle Regeln und Befehle für das Arbeiten fest. Nur wenn man diese Regeln und Befehle kennt und beachtet, ist ein ungestörtes Arbeiten möglich. Bei einer fehlerhaften Eingabe verweigert der Rechner schlicht seinen Dienst.

Das Betriebssystem

Die Leistungsfähigkeit des Betriebssystems ist für die effektive Leistung eines Computers ebenso entscheidend wie die Hardware. Benutzerführung, Datensicherheit und Datendurchsatz bestimmt im hohen Maße das Betriebssystem. Zu seiner Klassifizierung unterscheidet man folgende Eigenschaften:

Die Anzahl der Anwender, die das Betriebssystem beziehungsweise den Computer gleichzeitig nutzen können. Dabei unterscheidet man zwischen Einbenutzer-Systemen (Single-User-Systemen) und Mehrbenutzer-Systemen (Multi-User-Systemen).

Die Anzahl der »gleichzeitig« ablauffähigen Anwenderprogramme. Kann nur ein Programm im Speicher gehalten werden, handelt es sich um ein Singeltasking-System, kann es jedoch mehrere Programme im Zugriff halten, nennt man es Multitasking-System.

Grundsätzlich sind beide Kriterien voneinander unabhängig und können in beliebigen Kombinationen aufeinandertreffen.

Aus dem bisher Gesagten wird;deutlich, daß der Wert eines Computers direkt mit der Verfügbarkeit von Betriebssystemen und von Emulatoren steigt. Diese Software potenziert die Anzahl der Programme, die dann von einem Rechner genutzt werden kann. Erinnern wir uns an unseren potentiellen Käufer, dessen CP/M-System zu klein wurde. Entscheidet er sich für den ST und besorgt sich den CP/M-Z80-Emulator, wechselt er ohne den geringsten Datenverlust von der Computer-Vergangenheit auf den aktuellen Stand der Technik.

Etwas anders sieht es beim sogenannten Industriestandard aus. Da das Herz eines XTs selbst ein 16-Bit Prozessor ist, genügt dem ST eine reine Software-Lösung nicht. Sie ist zwar preiswert, aber zu langsam, um damit zu arbeiten. Hier sollten Sie auf entsprechende Lösungen mit Hardware-Zusatz zurückgreifen.

Wem die Emulatoren noch nicht genügen, dem bietet der ST eine Vielzahl an verschiedenen Betriebssystemen, seien dies nun Echtzeit-Multitasking-Systeme wie RTOS/UH oder Multitasking-Multi-User-Systeme wie Idris. Für den Käufer eines ST ist es wichtig, sich genau zu überlegen, wozu er den Rechner verwenden will. Liegen die Aufgaben im weiten Gebiet des Messen, Steuern, Regelns, so bietet sich RTOS/UH als geeignetes Betriebssystem an. Wollen Sie auf dem ST umfangreichere Software entwickeln, sollten Sie einen Unix Abkömmling wegen seiner Multitasking-Fähigkeit in Betracht ziehen. Hier wären beispielsweise Minix, Idris und OS 9 zu nennen.

Abschließend darf man mit ruhigem Gewissen feststellen, daß der ST für alle, die sich nicht fest an einen Computer oder ein Betriebssystem binden wollen, das Gerät ihrer Wahl ist. (uh)


Ulrich Hofner
Aus: ST-Magazin 08 / 1989, Seite 16

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