Atarium: Umwege zum Multitasking

Der »Macintosh« kann’s ein bißchen, »Windows 3« ebenso. Der »Amiga« kann es richtig, ebenso »OS/2« und »Unix«. Nur mit dem »ST« und dem »TT« geht es nicht. Wovon die Rede ist? Multitasking: Das quasi-gleichzeitige Bearbeiten mehrerer unabhängiger Programme.

Spätestens mit der Markteinführung des TTs ist der Bedarf an einem leistungsfähigeren Betriebssystem gestiegen. Schon beim ersten Messedebüt des 520 ST wurden die ersten Rufe laut.

Nun gibt es natürlich viele verschiedene Methoden, die Hardware besser zu nutzen. Einerseits kann man TOS vergessen. Zum anderen kann man versuchen, TOS nachträglich die entsprechenden zusätzlichen Fähigkeiten »aufzupfropfen«.

Fangen wir mit völlig »neuen«, also nicht zu TOS kompatiblen Betriebssystemen an.

Atari selbst nimmt in diesem Spiel eine recht traurige Rolle ein: Bereits auf der CeBIT 1986 sprach man davon, »Unix« für den ST anzubieten. Zwei Jahre später zeigte Atari auf amerikanischen Messen das Betriebssystem »Idris«. Wieder ein Jahr darauf versprach man, schon sehr bald »Coherent« anzubieten. Coherent gibt es mittlerweile wirklich: Es entspricht vom Leistungsumfang her etwa der veralteten Unix-Version »System 7«.

Viele andere Ansätze wurden gemacht und fanden auch teilweise ihre Marktnischen: Man erinnere sich an »RTOS/UH«, »Eumel« oder »OS/9«.

Mit einer neuen Version (1.5) im Rennen ist »Minix«.

Hier ist eine Marktnische

Minix bietet etwa das, was Unix System 7 kann, und ist daher mit einer Menge guter PD-Software versorgt. Hinzu kommt, daß man fast das ganze System als Quelltext erhält.

Für ein »echtes« Unix braucht man aber mehr Hardware. Atari hat zum kommenden Frühjahr für den TT eine eigene Unix-Version namens »ATX« angekündigt. Bei ATX soll es sich um eine Anpassung von »AT&T Unix System V Release 4« inklusive Grafiksystem »X Windows Release 11.4« (mit »Motif«) handeln.

Doch ist damit für TOS schon der Ofen aus? Oder kann man auch TOS zum Multitasken bringen, ohne die gesamte Software wegwerfen zu müssen?

Pionier war die Firma »Beckemeyer Development Tools« mit ihrem »RTX«. RTX ist GEMDOS-kompatibel und erlaubt es, mehrere Nur-GEMDOS-Programme gleichzeitig laufen zu lassen. Zusätzlich gibt es eine Reihe von GEMDOS-Erweiterungen, um beispielsweise Pipes und Prozeßkontrolle zu realisieren. RTX ist mittlerweile zu Shareware erklärt worden.

Einen anderen Weg will der Kanadier Eric Smith mit seinem »MinT« (’Mint is not TOS') gehen. MinT ist kostenlos, mit Quelltexten verfügbar und liegt momentan in der Betatestversion 0.6 vor. Bei ersten Experimenten erwies es sich als absturzsicher und hochgradig TOS-kompatibel. Ein GEM-Programm und »beliebig« viele Programme ohne GEM-Aufrufe können gleichzeitig laufen. Die GEMDOS-Erweiterungen fügen Prozesse (mit BSD-Job-Control), Pipes und neue GEM-DOS-Geräte hinzu. Die Verwaltung der Massenspeicher bleibt hingegen den Originalfunktionen Vorbehalten.

Für die Stabilität und das gute Konzept spricht auch, daß das Multitasking-Fenstersystem »MGR« (Manager) der »Bell Laboratories« bereits als Portierung für MinT den Fuß in der Tür hat (MGR kommt neuerdings auch als Fenstersystem unter »OS/9« auf dem ST zum Einsatz). Einziger Wermutstropfen: Noch läuft MinT nicht auf dem Atari TT.

Doch sollte man trotz der Vielzahl von neuen Betriebssystemen und GEM-DOS-Erweiterungen nicht vergessen, daß TOS eigentlich bereits ein Multitasking-Betriebssystem ist.

Ein sauber programmiertes GEM-Programm darf nur in Fenstern ausgeben, ist Eventorientiert und kommt auch damit zurecht, daß andere Prozesse (zur Zeit Accessories) ihre Fenster über die des Hauptprogramms legen.

Die logische Weiterentwicklung wäre also eine GEM-Version, bei der mehrere Hauptprogramme gleichzeitig geladen und durch Anwählen des dazugehörigen Fensters aktiviert werden können. Der »Multi-Desktop« bliebe dabei die gesamte Zeit aktiv — inklusive Icons und Fenster.

Als erste hatte sich hier die amerikanische Firma »Michtron« mit dem »Juggler« vorgetastet. Leider gab es damals nur sehr wenige echte GEM-Programme, und zudem war die konkrete Realisierung durch eine ungeschickte Nutzung des Event-Systems sehr langsam.

Auf der letzten Atari-Messe stellte Pascal Merle »PAMs Multi-GEM« vor. Das Unternehmen verfolgt ein sehr ähnliches Konzept, allerdings darf man auf eine bessere Performance hoffen.

Es ist ein offenes Geheimnis, daß auch Atari an einem multitaskingfähigen GEM arbeitet. Nur Atari als Entwickler kann die verschiedenen Klippen (Desktop, Anzahl der Fenster etc.) sauber umschiffen.

Saubere GEM-Programme

Dem Vernehmen nach stehen einer Veröffentlichung nur die vielen Blindgängerprogramme, die nicht laufen würden, im Wege. Aufruf: Mehr saubere GEM-Applikationen! Auch eine Flut von Briefen an die Verantwortlichen in Raunheim (Alwin Stumpf, Atari Computer GmbH, Frankfurter Str. 89-91, 6096 Raunheim) und Sunnyvale (Sam Tramiel, Atari Corporation, 1196 Bor-regas Avenue, Sunnvale CA 94086) kann keinesfalls schaden! Wir wollen unseren Multi-Desktop! (uw)

Bezugsquellen:

Minix: eMedia GmbH, Postfach 61 01 06, 3000 Hannover 61

RTX und Multitasking C-Shell: Computerware, Gerd Sender, Weißer Str. 76, 5000 Köln 50

OS/9: Cumana Germany, Microware GmbH, Johann-Karg-Str. 21-23, 8013 Haar-Salmdorf


Julian F. Reschke
Aus: ST-Magazin 12 / 1990, Seite 103

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