Editorial: Gefahr im Verzug

Sinn eines jeden Editorials ist, ein Thema aufzugreifen, das momentan in aller Munde ist. Trotzdem möchte ich mich einmal mehr mit dem neuen alten Thema Raubkopieren beschäftigen. Der Grund ist eine Nachricht, die mich vor einigen Tagen nachdenklich gestimmt hat.

Amerikas Software-Häuser resignieren

Begonnen hat die ganze Raubkopiererei vor einigen Jahren, als der kleine Bruder des ATARI ST, der ATARI 400/800, auf dem amerikanischen und deutschen Markt erschien. Kurz darauf folgte der Commodore 64, der das Raubkopieren zum Volkssport avancieren ließ. Alle Welt kaufte sich einen Home-Computer zu einem relativ geringen Preis und war dann kaum bereit, Geld für Software auszugeben. Die Folge ist, daß die Verfügbarkeit von möglichen Raubkopien ein Kaufgrund geworden ist. Nichtzuletzt deswegen ist der C-64 zum meistgekauften Home-Computer überhaupt geworden.

Schon zu der Hoch-Zeit des C-64 wurden die zu hohen Preise der Software beklagt, und als die Preise niedriger und niedriger wurden, änderte selbst diese Tatsache die Einstellung der meisten Raubkopierer nicht. Der einzige Grund, warum heute noch Software-Häuser für den C-64 Programme entwickeln, ist die Tatsache, daß selbst bei über einer Million verkauften Rechnern noch ein paar potentielle Käufer vorhanden sind. Man kann sagen, daß die Raubkopierei mit der Entstehung des C-64 gewachsen ist und er vielleicht auch gerade deshalb diesen großen Erfolg gehabt hat.

Wie ergeht es aber einem Rechner, der in einer Zeit des Wilden Westens - sprich der Raubkopiererei à la carte - geboren wird ? Stellen Sie sich vor, sie hätten ein Software-Haus. Nehmen wir weiter an, es gäbe circa 400000 Exemplare des Rechners auf dem Markt, für den Sie Software erstellen. Angenommen, Sie merkten, daß die Raubkopierrate mindestens genauso hoch ist wie auf dem C-64! Was wäre dann ihre Schlußfolgerung ? RICHTIG! SIE WÜRDEN SICHERLICH DAS ENTWICKELN DER SOFTWARE AUF DIESEM RECHNER ANDEREN FIRMEN ÜBERLASSEN, DENN SIE WOLLEN VON IHREM GESCHÄFT LEBEN. Sehen Sie! Und genau das haben viele der Software-firmen in den USA, die für den ATARI ST Software produzieren, getan. Bei einem Besuch der Messen in den Vereinigten Staaten erfuhren wir unter anderem von den Firmen HABA und ACTIVISION, daß sie sich ganz vom ST-Markt zurückziehen werden und das, obwohl HABA gerade mehrere große Programme für den ST fertiggestellt hat. HABA wird diese Software mit großer Wahrscheinlichkeit einem Interessenten verkaufen und dem ATARI ST den Rücken zukehren. Die Begründung liegt in dem in den USA stark ‘Spielegedrängten’ und damit professioneller Software nicht aufgeschlossenen ATARI-ST-Markt. Zusammengefaßt: Zuwenig Interesse an professioneller Software -IBM läßt sich nicht so einfach in den USA aus den Köpfen der Anwender verdrängen - und der restliche (Spiele-)Markt, an dem beispielsweise ACTIVISION interessiert ist, lohnt sich aufgrund der hohen Raubkopierrate nicht.

Europa gibt nicht auf!

Und wie sieht’s hier in Deutschland aus? Glücklicherweise haben die europäischen Anwender erkannt, daß auf dem ST auch professionelle Software zu haben ist. Daher bricht der Markt des ST in Europa (noch) nicht zusammen. Außerdem gilt der ST in Europa nicht so sehr als Spielerechner wie in den Staaten. Der ST ist in den USA der C-64-Nachfolger (Spiele, Spiele, Spiele ...), und der AMIGA sucht sich ein paar Anteile am professionellen Markt. Seltsamerweise ist genau das Gegenteil in Europa festzustellen. Man kann für den AMIGA hoffen, daß die Raubkopierer Mitleid mit ihrem Rechner haben, sonst ist der Markt in Europa auf dem AMIGA sehr schnell genauso kaputt wie in den USA auf dem ATARI ST.

In der Hoffnung, daß die Raubkopierer endlich ein Einsehen bekommen und merken, daß sie sich tatsächlich selbst schaden, programmiere ich - nachdenklich - weiter an meinem ATARI ST.


Stefan Höhn
Aus: ST-Computer 03 / 1988, Seite 3

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