Editorial: Die Geister, die ich rief...

Mein Bruder hat sich einen AMIGA 500 gekauft. Das wird zwar von vielen als ungeschickter Schachzug angesehen, aber Bruderherz ist ja nicht der einzige. Daß jedes Kopier- und Formatierprogramm auf seinem neuen Rechner einen gigantomanischen Vorspann mit Stock/Aitken/Raffzahn-Samples sowie animierter und bisweilen auch animierender Grafik bietet, das hat ihn einfach begeistert. So weit, so gut. Doch vor einer Woche hielt das Grauen in unserer Familie Einzug. Es fing damit an, daß sich die vornehme Hackerblässe meines Bruders um die Nase herum in ein fahles Grün verwandelte. Nach einer Weile erschien dieses Grün auch in den Augen; zu dieser Zeit begann er auch über Kopfschmerzen und Gleichgewichtsstörungen zu klagen. Mutter sah sich bestätigt: "Soll er halt auch an die frische Luft, statt den ganzen Tag in diesem DING zu klimpern!" Mein Bruder wehrte sich nicht. Das war für mich der Beweis: Er mußte einfach krank sein. Außerdem hat er früher auch nie versucht, sich mit uns in 6502Assembler zu verständigen.

Seitdem liegt er in Quarantäne im Gästezimmer, warm verpackt im Heiabettchen. Der Hausarzt war ratlos, verschrieb ihm Kopfschmerztabletten und trug uns auf, meinen Bruder Tag und Nacht weiter zu beobachten.

Nachts redet er im Traum wirres Zeug (mein Bruder - vom Hausarzt weiß ich's nicht). Gestern nacht - ich hielt Wache bei ihm - schreckte er in Trance auf und verließ sein Bett; ich wagte nicht ihn zu wecken. Nach einem Abstecher zur Abstellkammer, wo er sich etwas griff, das ich im Dunkel nicht genau erkannte, suchte und fand er den Weg zu seinem AMIGA. Dort öffnete er die Plastikflasche aus dem Abstellraum; es war ein Reinigungs- und Desinfektionsmittel einer besonders scharfen Marke ("Nieder mit Do ...., Freiheit für MS-DOS!"). Davon träufelte er etwas auf eine Diskette, die noch neben seinem Rechner lag, dann etwas in dessen eingebautes Laufwerk, und nahm dann selbst einen zaghaften, aber genußvollen Schluck aus der Pulle. Zufrieden grunzend machte er sich auf den Weg zurück ins Krankenbett.

Ich aber suchte danach den Tatort des seltsamen Rituals auf. Ein polareiskalter Schauerjagte quer über meinen Rücken und etablierte sich schließlich zwischen den Schulterblättern, als ich die Beschriftung der bewußten Diskette entziffert hatte. "Virus Construction Set" brannte es in meinen Augen.

Der Hausarzt hält meine wilden Theorien für absoluten Himriß. Meinen Eltern habe ich noch nichts gesagt; die Kollegen in der Redaktion sitzen jetzt noch mit ungläubig hängenden Unterkiefern regungslos auf ihren Stühlen. Die Virus-Protector-Programme schlagen bei meinem Bruder nicht an; ich kann beim besten Willen bei ihm keinen Diskettenschacht finden. Sein Zustand ist nicht kritisch (gestern konnte er schon wieder einen Joystick anfassen, ohne daß seine Fingernägel sofort schmerzhaft aufglühten), aber er fühlt sich immer noch miserabel. Meine Mutter auch, vor allem, seit er jetzt von innen heraus grünlich leuchtet. Bisher habe ich Commodores alberne Werbegags nie ernst genommen; aber hat meinen Bruder tatsächlich das AMIGA-Fever gepackt?

Um das Biotop Computer allen Produzenten dieser miesen Mikroben madig zu machen, habe ich mich also hinter meine Tastatur geklemmt. Ich hoffe, dieser wohl erste klinische Fall hat jedem deutlich gezeigt, daß Computerviren mitnichten ein harmloser Spaß... aber was ist das... das hat mein Textprogramm ja noch nie gemacht: "You are being hijacked... last orders, please!" Schnell mal abspeichern, was soll das - meine Ohren brennen so komisch - da ist alles andere dagegen ein mieser Taschenrechner pieppiep-piep mit Maus Walter (?) piepquietsch ein echter Profi kreisch ....

Claus Brod

Anmerkung der Redaktion: Dank der aufopfernden Pflege seiner Familie ist Claus Brod mittlerweile wieder einigermaßen auf dem Damm. Möchte jemand einen guterhaltenen, gebrauchten ST kaufen? Vielleicht noch einen AMIGA 500 dazu?



Aus: ST-Computer 06 / 1988, Seite 3

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