Rasterfahndung gegen Bakterien: Infektionen aufspüren mit dem Atari

Wenn das Bundeskriminalamt Terroristen per Rasterfahndung im Computer suchte, so war das nicht bei allen Menschen unumstritten. Wohl niemand dürfte sich jedoch daran stören, wenn der Atari, auf dem gleichen Prinzip basierend, gefährliche Bakterien als Erreger von Krankenhausinfektionen jagt. Genau dies geschieht mit dem Programmpaket MIKRO.DAT an einer mittelgroßen Klinik in Bayern. MIKRO.DAT wurde speziell für diesen Anwendungsfall programmiert, da ein vergleichbares Programm nicht anderweitig verfügbar ist.

Damit Nichtmediziner jetzt nicht gleich gelangweilt weiterblättern, zunächst einige Ausführungen zu Sinn und Zweck des Programmes. An unserem Krankenhaus fallen pro Jahr wie in allen vergleichbaren Kliniken ca. 10000 mikrobiologische Untersuchungen an. Das heißt, es werden Proben von Patienten entnommen (z.B. von Wunden, Blut, Urin, anderem Gewebe usw.) und dann untersucht, welche Bakterien in diesen Proben enthalten sind. Dies geschieht meist nicht direkt unter dem Mikroskop, sondern durch den Versuch, die Bakterien auf speziellen Nährböden anzuzüchten. Nach einigen Tagen wird dann die Bakterienart mit bestimmten Methoden identifiziert. Und - ganz wichtig - dann wird durch Zugabe von Proben einzelner Antibiotika getestet, welches dieser Medikamente gegen das jeweilige Bakterium wirksam ist.

Die gesamte Prozedur bis zum Vorliegen der Wirksamkeitstestung dauert allerdings mindestens einige Tage, bis dahin könnte der Patient schon an seiner Infektion gestorben sein! Die Behandlung muß also manchmal schon sofort einsetzen. Dann richtet sich der Arzt nach Erfahrungswerten. So weiß er, daß bei bestimmten Krankheitsbildern meist Penizillin hilft, bei anderen eher eines der neueren Antibiotika. Die Häufigkeit bestimmter Bakterienarten und ihre Empfindlichkeit gegen Antibiotika ist jedoch nicht überall und immer gleich. Vielmehr hat jede Klinik ihre speziellen Problembakterien, die immer wieder schwere Infektionen auslösen und besonders schlecht mit Antibiotika abzutöten sind. Außerdem können diese Verhältnisse sich im Laufe der Zeit immer wieder ändern. So dürfte den meisten bekannt sein, das Antibiotika nach längerer Anwendung in einer Klinik an Wirksamkeit verlieren können, was der Fachmann Resistenzentwicklung nennt.

Ende der Zettelwirtschaft

Deshalb sind die meisten Kliniken dazu übergegangen, genaue Statistiken über die bei ihnen vorherrschenden Bakterienarten und die Wirksamkeit der Antibiotika zu führen. Das wurde bis vor zwei Jahren an unserer Klinik durch eine aufwendige und nervenaufreibende „Zettelwirtschaft“ erledigt. Eine Erfassung und Auswertung aller Daten war so bei 10000 jährlichen Befunden aber natürlich nicht möglich. Bis mich eines Tages der mit dieser Sysiphusarbeit betraute Kollege ansprach und fragte, ob mein heißgeliebter Atari-Computer nicht auch zu praktischer Arbeit zwecks besserer Behandlung unserer Patienten etwas tauge.

Programmierung

Zuvor hatte der Kollege sich bereits über das Marktangebot entsprechender Programme auf ver-schiedenen Computern informiert. Außer einigen Angeboten zu horrenden Preisen einschließlich aufwendiger Hardware fand sich jedoch nichts Passendes. Außerdem hatte jedes Programm wieder seine Mängel, war also nicht auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten. So war denn ich selbst herausgefordert zu zeigen, was der Atari zu leisten vermag. Bereits durch Programmierung einiger anderer Anwendungen (u.a. für Doktorarbeiten von Kollegen) etwas geübt, machte ich mich ans Werk. Der Atari macht es einem ja nicht so schwer, mit seinem großen Hauptspeicher, der frei und linear adressierbar ist ohne die verschrobene Verwaltung der Speicherbereiche oberhalb von 640 kB unter MS-DOS. Und das standardmäßige Omikron.BASIC (ergänzt durch EasyGEM.LIB und Compiler) machen das Programmieren meist zu einem Vergnügen. So bleibt auch dem beruflich beanspruchten Assistenzarzt sogar noch die Muße, einige wenige Routinen in Assembler (mit dem GFA-Assembler) einzubinden, allerdings mehr aus Spaß an der Freude, denn Omikron.BASIC ist compiliert schon rasant schnell. Aber auch die Assembler-Programmierung erleichtert einem der MC 68000 im Vergleich zu den Intel-Prozessoren ja deutlich.

Ca. 6-8 Wochen später konnte zunächst probeweise mit der Dateneingabe begonnen werden. Im weiteren Verlauf kam dann das eigentliche Hauptprogramm zur Auswertung der Daten hinzu. Dabei werden alle Daten eines Jahrganges (oder bei kleineren Jahrgängen auch mehrere) in den Hauptspeicher geladen. So ist die eigentliche Suche in den Daten dann rasend schnell (da dürfte eine Datenbankanwendung auch auf einem Rechner mit 80386er-Prozessor Mühe haben, mitzuhalten). Ein typischer Suchvorgang dauert nämlich zwischen 1 und 2 Sekunden (bei 10000 Datensätzen).

Statistikausgabe

Wer suchet, der findet viel

Und was wird gesucht? Als erstes natürlich die Häufigkeit der einzelnen Bakteriensorten. Und dann die im Test ermittelte Empfindlichkeit gegen die einzelnen Antibiotika. Diese Ergebnisse erscheinen als Tabellen auf dem Bildschirm. Damit man sein dadurch neu gewonnenes Wissen auch getrost mit nach Hause nehmen kann, kann jede dieser Tabellen auf Knopfdruck auch sofort ausgedruckt werden. Oder man schreibt die Tabelle in eine ASCII-Datei, damit sie von jeder Textverarbeitung aus weiter verarbeitet werden kann, z.B. für wissenschaftliche Publikationen. Und wem das noch immer zu trocken ist, der packt die Tabelle in eine spezielle Datei, die vom zugehörigen Grafikprogramm geladen wird, das dann die Daten anschaulich als Blockdiagramm (zweidimensional) darstellt. Dieses Grafikprogramm kann aber auch für andere Grafiken (Torten, Linien) für ganz andere Zwecke eingesetzt werden. Es wurde ja auch ursprünglich für die grafischen Darstellungen in einer Doktorarbeit programmiert.

Doch wie macht man nun dem BKA Konkurrenz bei der Rasterfahndung? Nun, man sucht sich im Hauptmenü per Maus oder Tastatur Kriterien aus, nach denen gerastert werden soll. So z.B. einzelne oder Gruppen von Stationen, Untersuchungsmaterialien (z.B. nur alle Proben aus der Luftröhre oder aus Blut), Geschlecht der Patienten, Alter der Patienten (von ... bis), Zeitraum (z.B. nur einzelne Monate). Und was besonders wichtig ist, man kann auch nur nach Untersuchungen von Patienten mit ausgewählten Diagnosen suchen lassen, wobei die Diagnosenbegriffe vom Benutzer frei gewählt werden. Alle diese Suchkriterien lassen sich frei kombinieren, wodurch sich z.T. sehr differenzierte Fragen beantworten lassen.

So sucht der Computer in Sekundenschnelle alle Patienten heraus, die auf der Intensivstation im 1. Quartal wegen einer Lungenentzündung beatmet werden mußten, älter als 60 Jahre und männlich waren. Daraus kann man dann ersehen, mit welchen Bakterien bei diesen Patienten am ehesten zu rechnen ist und welche Antibiotika am besten helfen. Dies kann manchmal einen lebensrettenden Zeitgewinn bedeuten, bis das Ergebnis der Untersuchungen für einen einzelnen Patienten nach Tagen vorliegt! Wenn dann diese Rasterung für fortlaufende Quartale durchgeführt wird (was das Programm komfortabel unterstützt), kann man auch zeitliche Trends erkennen. So kann man rechtzeitig etwas unternehmen, wenn ein Bakterium überhand nimmt oder ein Antibiotikum immer schlechter wirkt.

(Fast) alles ist möglich

Natürlich kann man auch ziemlich unsinnige Rasterkombinationen vorgeben. Dann bekommt man ein zwar korrektes, aber wenig sinnvolles Ergebnis. Und wie mit jeder Statistik läßt sich auch damit viel Unsinn treiben. So stellt auch weiterhin der Arzt die Diagnose bzw. entscheidet sich für ein Antibiotikum, und nicht unser Atari, auch wenn wir ihm sonst so viel vertrauen.

Das Programm läuft nun schon seit ca. 18 Monaten und hat uns manches interessante Ergebnis geliefert. In dieser Zeit wurden wiederholt Änderungen daran vorgenommen. Insbesondere haben wir weitere Funktionen eingebaut, wenn uns diese wichtig und machbar erschienen. So hat es unterdessen einen gewissen Reifegrad erreicht. Seine Funktionen entsprechen den praktischen Anforderungen und nicht nur theoretischen Überlegungen. Seit kurzem ist auch die Anpassung an die Gegebenheiten anderer Krankenhäuser bzw. bei Änderungen im eigenen Haus leicht mit Hilfe eines weiteren kleinen Zusatzprogrammes möglich.

Es geht nicht ganz ohne Probleme

Bei aller Begeisterung bleiben jedoch auch Probleme. Das größte besteht im hohen Aufwand an Tipparbeit bei der Eingabe in Anbetracht von ca. 10000 Befunden pro Jahr. Deshalb wurde darauf geachtet, daß wirklich nur ein Minimum an Tastendrücken pro Befund nötig ist. So dauert die Eingabe eines Befundes für den etwas eingearbeiteten Nutzer nur wenige Sekunden. Auch die beim ST-Computer so wichtige Maus kommt im Auswertungsprogramm voll zu Ehren, sie hilft bei der Auswahl aus den Menüs, alternativ kann aber meist auch eine Taste gedrückt werden. Und so richtig austoben kann sich jeder Nagerliebhaber im zugehörigen Grafikprogramm, denn das wurde voll unter GEM geschrieben. Schön wäre jedoch die Dateneingabe über strichcodemarkierte Laborzettel. Doch dann ergäbe sich das neue Problem, ein Strich-Code-Lesegerät per Programm abzufragen. Dazu fehlen uns die Erfahrungen. Außerdem müßten die Diagnosen weiterhin per Hand eingetippt werden, da es sich ja um frei vom Benutzer gewählte Begriffe und nicht nur um eine Auswahl aus einer kleinen Liste handelt.

So wird denn trotz hervorragender Unterstützung durch den ST-Computer weiterhin eine Menge Fleiß nötig sein, bevor der Preis der Erkenntnis aus der Rasterfahndung winkt. Und noch etwas bleibt: Gegen Computerviren, die sich an unserem Atari zu schaffen machen, hilft das Programm leider auch nicht!

Dr.med. Manfred Kester
Am Römerkastell 1
W-6350 Bad Nauheim



Aus: ST-Computer 07 / 1991, Seite 12

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