LYNX II - Ataris tragbarer Entertainer

Anfang der Achtziger machte das VCS 2600 Atari zum Marktführer unter den Videokonsolenherstellern von Videospielen. Kurze Zeit später trat der Heimcomputer seinen Siegeszug durch die Kinderstuben an, und die Konsolen verschwanden in der Versenkung, bis die japanischen Konzerne Sega und Nintendo mit High-Tech-Hardware und Spitzenmodulen wieder Wind in die Szene brachten.

Dem Erfolg von Megadrive, Mario und Co. wollte Sam Tramiel von Atari nicht tatenlos Zusehen. Also meldete sich Atari Ende 1988 mit dem Lynx im Konsolengeschäft zurück. Ohne durchschlagenden Erfolg allerdings: Technisch steckte der farbige Mobilentertainer seinen direkten Konkurrenten Game Boy locker in die Tasche. Jedoch floß der Modulstrom über lange Zeit so zäh wie Sirup dahin, und auch der enorme Batterieverbrauch machte die edle Kiste nicht gerade attraktiver. So mancher Experte sah wohl schon das Aus fürs Lynx, doch Atari wußte zu kontern. In Silicon Valley wurden dem Handheld alle Kinderkrankheiten ausgetrieben. Für rund DM 200,- hält der Käufer nun ein quasi runderneuertes Gerät in den Händen.

Facelifting

Gleich bei der ersten Begegnung mit dem neuen System fällt auf, wie angenehm der Controller in den Händen liegt. Neben einem kleineren Gehäuse haben die Entwickler dem Lynx II auch ein fetzigeres Outfit in dunkelblau und schwarz verpaßt. Am rund drei Zoll großen Farb-Display, dem großen Joypad und den vier Action-Buttons ging das Facelifting dagegen spurlos vorüber. Gut so, denn dadurch kommen Links- und Rechtshänder nach wie vor gleichberechtigt zum Zug. Durch Drücken von Pause und FLIP laßt sich nämlich jederzeit der Bildschirm umdrehen. Verrenkungen wie am Game Boy sind da nicht zu befürchten.

An der Rückseite des Geräts bietet der Batterieschacht Platz für sechs Mignonzellen. Herkömmliche Alkali-Batterien verrichten dort bis zu vier Stunden ihren Dienst, Akkus halten den Spielspaß rund 25% länger am Laufen. Um kostbare Energie zu sparen, kann die Bildschirmbeleuchtung ausgeschaltet werden. Zu empfehlen ist dies aber nur an hellen Tagen, ansonsten tränen einem schon nach ein paar Minuten angestrengten Guckens die Äuglein. Wer öfters in Steckdosennähe zockt, legt sich am besten für DM 25,- einen Netzadapter zu.

Checkered Flag

Lynx sucht Anschluß

Gleich neben der dafür vorgesehenen Anschlußbuchse liegt ein standardmäßiger Kopfhöreranschluß. Ist die Verbindung über Klinkenstecker erst einmal hergestellt, verwöhnt das Lynx die Lauscher mit Stereo-Sound aus vier voneinander völlig unabhängigen Kanälen. Aus dem internen Mini-Lautsprecher dringt dagegen nur monotones Gepiepse. Selbiges würgt man am besten umgehend am Lautstärkeregler ab, denn gerade in der U-Bahn sind Störenfriede nicht gern gesehen. Von der Dudel-Akustik einmal abgesehen, gibt sich das Lynx enorm kommunikationsfreudig. Über Datalink können bis zu acht Geräte gekoppelt werden. Etliche Cartridges, wie beispielsweise das eher schlichte Formel-Eins-Rennen „Chequered Flag“, laufen erst im Data-link-Betrieb zur Hochform auf.

Genau dieses Modul nutzt auch den speziellen 3D-Chip im Lynx aus.

Mit seiner Hilfe ist es möglich, Objekte stufenlos bis auf Bildschirmgröße hochzuzoomen und beliebig zu drehen. Ansonsten versetzt das Lynx technisch keine Bäume. Im Innern der Konsole verrichtet ein 6502 im 4-MHz-Takt seine Dienste - jener Chip, der schon den Commodore 64 auf Touren hielt. Für seine Pixel-Kunstwerke in einer Auflösung von 160 * 102 Punkten steht dem Grafiker eine Palette von 4096 Farben parat. Gleichzeitig zu sehen sind davon aber maximal 16.

Faites votre jeux

Jetzt aber endlich konkret zu dem, was da eigentlich so über den Screen flimmert. Etwa 50 Module zu Preisen zwischen DM 50,- und 70,- buhlen derzeit um des Gamblers Gunst. Bis Ende des Jahres sollen noch einmal 30 dazukommen. Das Gros des Angebots stellen Umsetzungen von Spielautomaten. Kein Wunder, setzt Atari doch seit über einem Jahrzehnt immer wieder Akzente im Arcade-Bereich. Was aber noch lange nicht bedeutet, daß die Cartridge-Versionen genauso viel Spaß wie ihre Vorbilder auf den Schaltkreisen beheimaten. Ganz im Gegenteil, Module wie die monotone Zwei-Spieler-Ballerei „Xenophobe“ oder die langatmige Ganovenhatz „A.P.B." gehören klar in die Kategorie Ausschußware. Eine etwas bessere Figur macht da schon „Rygar“, auch wenn dieses angestaubte Hack'n' Slay-Epos außer flotten Sprites und einem gesalzenen Schwierigkeitsgrad dem Genre keinerlei neue Impulse verleiht. Ebenfalls recht bodenständig kommt "Paperboy“ daher. Auf dem BMX-Radel hat der Spieler dafür zu sorgen, daß die Abonnenten jeden Morgen ihre Tageszeitung im Briefkasten haben. Am Anfang macht das Pedaletreten auf dem scrollenden Stadtparcours noch Spaß. Doch auch die eingestreuten Zwischen-Levels auf der Cross-Strecke zögern die ersten Gähnanfälle nur um wenige Minuten hinaus.

Auch aus der Idee von „Pac Land“ hätte Atari mehr herausholen können als ein ödes Jump and Run. Videospiel-Veteran Pac Man läuft von links nach rechts durch eine extrem naiv gezeichnete Comic-Welt, weicht Geistern aus und sammelt Früchte ein. In höheren Levels scrollt das Lynx tadellos in mehreren Ebenen. Ein hübscher Effekt, der die Verweildauer im Modulschacht ein wenig erhöht. Wer von Pacman und Konsorten nicht genug kriegen kann, greift aber lieber zur originalgetreuen Adaption von „Ms. Pac Man“. Mit rosa Schleife im Haar rast die gefräßige Heldin durch ein Labyrinth voller Pillen, immer auf der Flucht vor einer Horde Gespenster. Fast genauso viele Jährchen auf dem Buckel wie Fräulein Pac haben die vier Riesenmonster aus der Verwüstungsorgie „Rampage“. Als Gorilla oder Rieseneidechse macht der Spieler nach und nach diverse amerikanische Millionenstädte dem Erdboden gleich. Natürlich sieht die Bevölkerung den rapiden Verfall der Bausubstanz nicht gerade gern und hetzt Panzer, Polizei und MG-Schützen auf die riesigen Zerstörer. Obwohl moralisch nicht ganz unbedenklich, macht Rampage auch heute noch mächtig Laune -gutes Spieldesign zahlt sich eben aus. Gleiches gilt für den Oldie „Gauntlet", auf den die Bezeichnung Mini-Rollenspiel wohl am ehesten paßt. Ein. zwei oder vier Recken ziehen los, um in über 20 scrollenden Irrgärten nach Schlüsseln und Schätzen zu suchen. Dabei begegnen ihnen allerlei gruftige Gesellen und sogar Gevatter Tod höchstpersönlich. Durch die Link-Option geht im Mehr-Spieler-Modus mächtig die Post ab. Zusätzlich heizt die abwechslungsreiche Grafik die heißen Konkurrenzkämpfe um den höchsten Score an.

Für Leute, die ihren Adrenalinspiegel lieber am Steuer eines Boliden hochpeitschen, bietet „Chequered Flag“ eine solide Formel-1-Simulation mit zahlreichen Rennen auf flotten 3D-Pisten. Gerade wenn mehrere Nachwuchspiloten ihre Runden drehen, fällt der Mangel an Tuning-Optionen und Boxenstops nicht weiter auf. Dagegen steckt im Sportwägelchen aus „Roadblasters“ echtes High-Tech-Equipment. Und das ist auch bitter nötig, denn in dieser militanten 3D-Hatz darf nicht nur nach Herzenslust aufs Gaspedal getreten, sondern auch auf den Feuerknopf eingehämmert werden. Stattliche 50 Levels erwarten den stahlharten Driver. Hindernisse auf der Fahrbahn. Scharfschützen am Strek-kenrand und ein enormer Spritverbrauch sorgen für ein kurzes Bildschirmleben. Zum Glück wirft ein Helikopter hier und da Extrawaffen ab - das Maschinengewehr im Anschlag, ist einem jedes Tempolimit schnurzpiepegal.

Ataris bislang beste Automatenumsetzung kommt allerdings ganz ohne Brutalität aus. Zurecht genießt „Klax“ unter Lynxianern in etwa den gleichen guten Ruf wie Nintendo-Tetris für den Game Boy. Wie immer bei genialen Tüftelspielen ist die Idee denkbar einfach: Von oben herab rollen farbige Klötze auf einem Fließband heran. Unten angekommen, fängt sie der Spieler mit einer Art Gabelstapler auf und deponiert die Ladung in einen Behälter. Durch überlegtes Schichten entstehen Reihen aus drei oder mehr Blöcken gleicher Farbe. Da auch horizontale und diagonale Linien zählen, sind echte Domino-Effekte möglich. In den 100 ausgefeilten Levels steckt mehr Suchtgefahr als in hundert Schachteln Zigaretten. Zudem geizt das Modul nicht mit schicker Sprachausgabe und einer Batterie zum Speichern von High-Scores.

Ebenfalls in die Grübel-Kerbe schlägt „Block Out“. Das Lynx eigene Tetris-Surrogat kleidet das bekannte Spielprinzip in ein fesches 3D-Ambiente. Von oben herab fallen geometrische Objekte in einen Becher hinein, dessen Standfläche und Höhe der Zocker genau wie den Schwierigkeitsgrad vor jeder Partie festlegt. Läßt man die Teile nun so rotieren und in den Behälter purzeln, daß ebene Flächen entstehen, werden diese wie von Geisterhand weggenommen. Räumliches Vorstellungsvermögen und gute Reflexe sind der Schlüssel zum Erfolg. Jedermanns Sache ist „Block Out“ aufgrund der sehr abstrakten Grafik sicher nicht, Nachwuchs-Einsteins bringt es aber jede Menge Spaß. Nicht minder stark gefordert werden die grauen Zellen bei „Chip's Challenge“. Um seiner neuen Herzdame zu imponieren, geht der kleinwüchsige Held Chip ein großes Abenteuer in 144 Levels ein. In jedem dieser scrollenden Labyrinthe liegen Speicherbausteine versteckt. Sie gilt es aufzusammeln, und dann nichts wie ab zum Ausgang. Leider machen Feuerwände, Eis- und Magnetfelder sowie unüberwindbare Wassermassen diese Aufgabe zum Drahtseilakt für flinke Denkprofis. Eine sehr detaillierte Grafik und Paßwörter zum direkten Einstieg in höhere Levels entschädigen den Byte-Experten für so manch verschwendete Gehirnzelle. Vom gleichen Entwicklerteam wie „Chips Challenge“ stammt das eher actionlastige Irrgartenspielchen „Electrocop“. Die Knarre im Anschlag, erkundet der Spieler in Robocop-ähnlicher Montur das Hauptquartier eines Industriegiganten. Neben bösen Buben stehen auf den Gängen auch ein paar ganz witzige Spielautomaten mit Klassikern wie Defender oder Breakout herum. Von dieser Idee und der beeindruckend flüssigen 3D-Grafik einmal abgesehen, bietet der Bulle mit Stromanschluß leider nur magere Hausmannskost.

Ebenfalls im Polygon-Look kommen die beiden Flugzeugspielchen „Blue Lightning“ und „Warbirds“ daher. Letzteres nimmt gar für sich in Anspruch, der erste waschechte Flugsimulator fürs Lynx zu sein. „Blue Lightning“ hingegen ist eine starke Variante des Afterburner-Prinzips: drei Luft- und Bodenangriffe in Perfektion. Leider sind die Levels ein wenig lang geraten. Außerdem fliegt man häufig durch die Gegend, ohne daß etwas passiert. „Warbirds“ schneidet bei näherer Betrachtung kaum besser ab. Einige Zeitlang sorgen die Doppeldecker-Dogfights für gepflegte Erste-Weltkriegs-Atmosphäre, vor allem, wenn mehrere Lynx-Piloten via Modem-Link gleichzeitig in die Luft gehen. Das Aus für das moralisch nicht ganz standfeste Vergnügen folgt aber spätestens in den übertrieben schwierigen höheren Abschnitten.

Auf ganz andere Art unappetitlich geht es in der „Slime World“ zu. Mit Jetpac und Laserwaffe laufen bis zu acht furchtlose Höhlenforscher durch verwinkelte Irrgänge. Massig eklige Gegner, unter ihnen Riesenspinne und Freund Fledermaus, schleimen durch die Gewölbe. Ideales Kanonenfutter für das stattliche Arsenal von Extrawaffen. Wer’s noch eine Stufe rauher liebt, greift am besten zur Ballerware für unterwegs. „Zarlor Mercenary“ und „Gates of Zendocon“ befriedigen die Ballergelüste schießwütiger Joypad-Artisten auf passable Art. Neben dem Verteidigungs-Equipment und der Level-Anzahl unterscheiden sich die Programme nur durch die Richtung, in die das Display scrollt. Während die „Gates of Zendocon“ in bester R-Type-Manier zur Seite hin offen stehen, schlägt sich der Söldner aus Zarlor von oben nach unten durch Feindesland . Auch der bonbonbunte Geschicklichkeitstest „Super Skweek“ aus Frankreich scrollt fleißig vertikal. Als liebliches Knuddelwesen färbt der Spieler auf sieben Inseln mehr als zwanzig Levels rosa ein -was kein größeres Problem wäre, wuselten nicht allerhand kauzige Gesellen auf den Plattformen herum. Gottlob gibt es ein paar sinnvolle Schußwaffen sowie Tele-porterfelder, Abkürzungen und Geheimgänge in höhere Abschnitte, die einen vor so dem frühzeitigen Game Over bewahren. Auf der technischen Seite bietet Super Skweek keinen Anlaß zur Kritik: Comic Grafik und liebliche Melodien erfreuen den Betrachter. Dank des moderaten Schwierigkeitsgrades genau das richtige Cartridge für Nachwuchs-Lynxianer.

Auch bei den „California Games“ kommen die jüngeren Semester nicht zu kurz.

Ob Surfen, BMX-Biking, Skateboard-Stunts oder Jongleurarbeiten mit dem Footback - immer sind exaktes Timing, eine präzise Steuerung und viel Ausdauer gefragt. Drei Jahre hat der Epyx-Klassiker nun schon auf dem Buckel, ohne auch nur ein Byte von seiner Spritzigkeit verloren zu haben. Mindestens genauso zeitlos: „Shanghai“. In japanischen Teehäusern seit dem vierten Jahrhundert als Mah-Jong für seinen hohen Suchtfaktor bekannt, sorgt auch die neuzeitliche Modulfassung für jede Menge Motivationsschübe. Auf dem Screen erscheinen 144 asiatische Ornamente. Gleiche Symbole gehören zusammen und können durch Anklicken entfernt werden. Clou dabei: Die Sternchen liegen in verschiedenen Figuren. z.B. Drachen, Spinne etc., in mehreren Ebenen übereinander. Abtragen in der richtigen Reihenfolge ist also angesagt. Auch auf der niedrigsten Schwierigkeitsstufe ohne Zeitbegrenzung eine Herausforderung, von der keiner so schnell die Finger läßt. Damit schließt sich der Reigen. Es gibt natürlich noch mehr Module fürs Lynx, denn Atari hat für jeden Geschmack und jedes Alter wenigstens ein passendes Game im Repertoire.

Vorausschau

Attraktivitätssteigernd feiern gleich mehrere Computerspielklassiker im Herbst ihr Debüt auf dem Handheld: Ab Oktober turnen die todesmutigen Lemminge durch 100 knifflige Landschaften, vor Jahreswechsel steht mit „Eye of the Beholder“ das erste Rollenspiel für den portablen Entertainer ins Haus. Damit sollte sich das Lynx endgültig vom lnsidertip zum begehrten Videospielsystem mausern. Verdient hätte das die durchdachte Konsole allemal. Atari hat zweifellos die beste portable Videospielkonsole, wenn man sie mit Segas Game Gear oder Nintendos Game Boy vergleicht. Nun müßte Ataris Marketing-Abteilung nur noch aus ihrem tiefen Schlaf erwachen und durch aggressive Werbung und Medienarbeit der Öffentlichkeit erzählen, wie gut die hauseigene Konsole ist.


Carsten Borgmeier
Aus: ST-Computer 09 / 1992, Seite 56

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