Charly Image - Verdächtig preiswert

Charlys Arbeitsoberfläche mit Werkzeug- und Werkzeugparameter-Box mit mehreren Farbdialogen

Bisher fristete Charly Image - von der EBV-Welt relativ unbeachtet - sein Dasein im Schatten fest im Markt etablierter, weitaus teurerer ’EBV-Boliden’. Aufgrund seines extrem niedrigen Preises läuft man leider schnell Gefahr, dieses Programm von vornherein unterzubewerten.

Charly Image 2.0 bietet sowohl Funktionen zur Bildverarbeitung als auch zur Vektorisierung; eine interessante Kombination, die bisher nur ein einziger ’Mitbewerber’ aufweisen konnte. Unser Test soll daher zeigen, inwieweit ein direkter Vergleich mit anderen Programmen dieses Genres gerechtfertigt ist. Charly Image 2.0 ist entweder zusammen mit den bekannten Charly Handy-Scannern oder auch separat für 198 DM bei Wilhelm Mikroelektronik erhältlich. Es läuft auf allen ATARI-Rechnern ab 1MB Arbeitsspeicher und unterstützt als saubere GEM-Anwendung sowohl Grafikkarten als auch Großbildschirme. Aber was kann man von einem Programm dieser Preiskategorie gerade im anspruchsvollen Bildverarbeitungsbereich schon erwarten ... " Ziemlich viel, wie sich im Laufe des Testes immer wieder herausstellte! Soviel vorweg: bei dem gebotenen Leistungsumfang kann dieser Preis tatsächlich als sensationell angesehen werden.

Triebhaft modular

Die Menüleiste beschränkt sich auf ganze drei Einträge, die die üblichen Dateioperationen sowie die Lupenfunktionen enthalten. Ferner lassen sich von hier aus die Bildbearbeitungsfunktionen sowie eine interaktive Online-Hilfe aufrufen. Dieses hypertextartige Hilfesystem ist vorbildlich und bietet in den meisten Situationen ausreichende Informationen.

Sowohl jegliche Bilddatenein- und -ausgabe als auch jede Bildveränderung wird von speziellen Treibern erledigt. Charly Image listet in einer Treiber-Auswahlbox automatisch nur die Treiber auf, die sich in der jeweiligen Arbeitssituation sinnvoll einsetzen lassen. Das Programm bleibt hierdurch trotz seiner Funktionsvielfalt sehr übersichtlich und ist offen für Anpassungen an z.B. neue Scanner-Typen oder Funktionserweiterungen. Die Integrierung der Bildbearbeitungsfunktionen in ein modulares Treiberkonzept hebt Charly Image deutlich von anderen Programmen dieses Genres ab.

So kommt auch beim Anlegen einer neuen Rastergrafik ein entsprechender Treiber zum Einsatz. In einer Dialogbox lassen sich durch die Angabe der Ausmaße sowie der Bit-Tiefe bzw. Farbebenen vom Monochrom- bis hin zum True-Color-Bild beliebige Bildtypen erzeugen. Grafiken lassen sich entweder über einen Scanner oder über eines der diversen Import-Module einlesen. Scanner-Treiber für alle Scanner der ’Charly’-Reihe werden bereits mitgeliefert; andere Treiber können separat bei Wilhelm Mikroelektronik angefordert werden. An Bildformaten lädt Charly Image so ziemlich alles, was ihm vorgesetzt wird: angefangen, von den gängigen ST-Bildformaten (IMG, Degas. STAD, NEO, ART etc.) bis hin zu systemübergreifenden Formaten wie TIF, GIF, BMP und vielen mehr. Auch beim Speichern von Grafiken zeigt sich Charly Image erfreulich ’gesprächig’; so können Rastergrafiken z.B. als TIF, PostScript oder GEM Image und Vektorgrafiken z.B. als CVG oder EPS abgespeichert werden. Einem Bildimport in beliebige Publisher steht somit nichts im Wege.

Exotisch

Charly Image öffnet bei Bedarf bis zu sechs GEM-Fenster, die alle unterschiedliche Bildtypen enthalten können. Je nach Bildformat stehen in der Treiber-Auswahlbox verschiedene Bearbeitungsfunktionen zur Verfügung, die sich entweder auf das gesamte Bild oder einen markierten Block auswirken. So existieren für Graustufen bzw. Farbbilder neben den Standardfunktionen wie z.B. Graustufenumwandlung und Regelung von Helligkeit und Kontrast auch ’exotische’ Funktionen wie z.B. Zufallsverteilung, Solarisation und Modulation. Ein besonderer Leckerbissen ist die Wandlung von einem Graustufen- in ein Farbbild. Mit Hilfe diverser Farbtabellen lassen sich hiermit Bilder durch Umrechnung der im Bild enthaltenen Grauwerte künstlerisch verfremden. Bei der umgekehrten Wandlung eines Farbbildes in ein Graubild lassen sich lediglich die RGB-Werte justieren.

Riskantes Spiel

Während manche Treiber das aktuelle Bild direkt verändern, öffnen andere ein neues Grafikfenster. Hierbei ist leider nicht sofort ersichtlich, wie sich welcher Treiber verhalten wird; unter Umständen kann man so sein ’Kunstwerk’ binnen weniger Sekunden verschandeln. Gerade hier macht sich die völlig fehlende UNDO-Funktion schmerzlich bemerkbar. Die einzige Möglichkeit besteht theoretisch darin, das Bild nach jeder geglückten Manipulation abzuspeichern und nach einem ’Unfall’ mit der Escape-Taste neu einzulesen. Dies ist sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluß, zumal das Abspeichern eines großen Farboder auch Graustufenbildes meistens längere Zeit in Anspruch nimmt. Die Gestaltungsmöglichkeiten bei Monochrombildern sind aufgrund fehlender Zeichenfunktionen recht eingeschränkt, aber Charly Image ist ja auch kein Zeichen-, sondern ein Bildverarbeitungsprogramm. Doch gerade in dieser Hinsicht vermisse ich z.B. eine Filterfunktion zum schnellen Säubern ’verrauschter’ Bitmap-Scans. Überzeugend hingegen sind Charly’s Funktionen, beim Vergrößern von Rastergrafiken die Treppchenbildung durch verschiedene Glättungsalgorithmen zu unterdrücken. Als sehr effektiv, aber auch extrem rechenintensiv erwies sich hier die ’kubische Interpolation’. Durch die Arbeitsschritte a) Vergrößern mit Glättung, b) Vektorisieren und c) Rückwandeln in ein Pixel-Bild lassen sich Strich-Scans fast ohne Qualitätsverlust beliebig vergrößern.

Charlys Werkzeuge

Die Werkzeugbox läßt sich mit der SPACE-Taste ein- und ausblenden und bietet alle zur Bildverarbeitung nötigen Werkzeuge wie Stift, Sprühdose, Schmierfinger, Wasser, Schärferusw. Einmaliges Anklicken selektiert das jeweilige Werkzeug, während nochmaliges Klicken eine Dialogbox öffnet, in der sich diverse Parameter zu den einzelnen Werkzeugen festlegen lassen, wie z.B. Größe, Form, die Transparenz zum Rand hin usw. Ein sehr wichtiger Parameter, die Transparenz bzw. Deckwirkung der einzelnen Werkzeuge, versteckt sich etwas ungeschickt hinter dem Symbol für die Farbauswahl, der Pipette. Aber da sich sämtliche Funktionen auch über Tastatur aufrufen lassen - in diesem Fall durch simples Drücken der Taste „T“ fällt dieser Umstand nicht weiter ins Gewicht. Leider lassen sich die einmal sorgfältig justierten Werkzeugparameter nicht abspeichern, weshalb man diese Einstellungen nach jedem Programmstart für die einzelnen Werkzeuge erneut vornehmen muß. Für jedes der insgesamt sechs GEM-Fenster existiert übrigens eine eigene Werkzeugbox, in der man die Werkzeugparameter voneinander unabhängig einstellen kann.

Farben lassen sich einerseits über verschiedene Farbmodelle definieren: hierzu gehören das RGB-, das HSB- und das CMYK- Modell. Leider lassen sich in letztgenanntem die Werte für die Farbanteile nicht direkt eingeben, sondern nur durch Angabe der HSB- bzw. RGB-Werte definieren. Andererseits kann man komfortabel mit dem sog. ’Pipetten’-Werkzeug durch einfaches Klicken in das Bild die Farben für Vorder- und Hintergrund he-raus’picken’. Diese Farben gelten dann z.B. nicht nur für die Zeichenwerkzeuge sondern auch als Grenzen für Färb- oder Grauverläufe. Das Verlaufswerkzeug gestattet die Wahl zwischen linearen Verläufen in beliebigen Winkeln sowie radialen Verläufen. Diese beziehen sich jeweils auf das ganze Bild oder einen markierten Block.

Über die sog. ’Pin-Nadel’ lassen sich auf einfache Weise zwei Bilder bzw. Bildausschnitte miteinander kombinieren. Nachdem mit der Pin-Nadel in beiden Bildern Bezugspunkte festgelegt wurden, lassen sich diese exakt übereinanderlegen; die Transparenz ist frei definierbar. Ebenfalls ist es möglich, ein Bild in das andere mit dem Stiftwerkzeug durchzupausen. Bei geschickt eingestellten Stiftparametern lassen sich auf diese Art sehr homogene Übergänge zwischen den Bildteilen einer Collage erzeugen. Die Werkzeugbox bietet weiterhin Funktionen zum Drehen von Bildern in 90-Grad-Schritten sowie zum Spiegeln und Zoomen. Sämtliche Funktionen arbeiten recht schnell, so daß man wirklich zügig vorankommen kann. Selbst bei 24-Bit-Bildern liegt die Geschwindigkeit noch in einem erträglichen Rahmen. Obwohl die Möglichkeiten, ein Graubild in eine Bitmap zu wandeln, sehr umfangreich sind, ist die gezielte Angabe der Größe und der Rasterweite des Zielbildes leider nicht möglich. Dieser Umstand erschwert eine flexible Weiterverwendung von gerasterten Bildern leider unnötig, da manche Publisher nunmal nicht in der Lage sind, ungerasterte Bilddaten zu verarbeiten.

Charly goes vector...

Charly Image ist in der Lage, Bitmap-Bilder automatisch zu vektorisieren. Hierbei erkennt das Programm wahlweise Linien und/oder Bezierkurven; die Parameter für beide Linientypen lassen sich frei bestimmen. Die Vektorisierung selbst benötigt zwar deutlich mehr Zeit als bei Vergleichsprodukten, jedoch zählen letztendlich die Ergebnisse; und die sind in der Regel durchweg brauchbar. Nur bei sehr komplexen Vorlagen hatte Charly Image manchmal Probleme, gefüllte Flächen korrekt zu erkennen. Der Import der Vektorgrafiken in die gängigen Publisher im CVG- bzw. EPS-Format funktionierte übrigens einwandfrei.

Die Vektorbearbeitung selbst beschränkt sich auf das Verschieben, Bewegen oder Löschen einzelner Objekte, Pfade oder Punkte. Ebenfalls lassen sich einzelne Objekte oder Pfade über ein internes Clipboard kopieren. Eine Besonderheit sind die Möglichkeiten zur Konturdarstellung: wahlweise lassen sich die Bearbeitungsmodi ’Kontur’, ’Kontur bei Selektion’ und ’Flächen’ auswählen. Gerade letztgenannter ist sehr ungewöhnlich, da man bereits während des Verschiebens von Stützpunkten die gefüllten Flächen in ’Echtzeit’ sieht. Da diese Funktion natürlich extrem rechenintensiv ist, sollte man sie aus Geschwindigkeitsgründen eigentlich nur beim Bearbeiten einfacher Vektorgrafiken einsetzen. Leider fehlen Funktionen wie z.B. Einfügen von Stützpunkten oder Tauschen von Bezier-Kurven und Linien.

Natürlich ist auch der umgekehrte Weg der Vektorisierung vorgesehen, also eine Vektorgrafik in ein Rasterbild umzuwandeln. Hierbei läßt sich ein Vergrößerungsfaktor angeben, um den das Vektorbild beim Umrechnen dann ’aufgeblasen’ wird.

Das Handbuch

Das Handbuch konnte mich weder von der Textgestaltung noch vom Inhalt her begeistern. Viele Grammatik- und Kommafehler zwingen häufig dazu, einen Satz zweimal zu lesen, um den Inhalt zu verstehen. Die Funktionen sind allgemein knapp beschrieben, und es mangelt an praktischen Anwendungsbeispielen. Jedoch wiegt Charlys intuitive Benutzerführung diesen Mangel wieder auf, da man auch fast ganz ohne Handbuch die meisten Funktionen schnell im Griff hat. Positiv fallen die Erläuterung der diversen Grafikformate sowie das Glossar und das recht ausführliche Stichwortverzeichnis auf.

Fazit

Charly Image hat den, „Checkpoint“ relativ heil überstanden. Manchen Funktionen fehlt noch der gewisse Schliff, andere müssen unbedingt nachgebessert werden; hier denke ich besonders an die fehlende UNDO-Funktion und das Abspeichern der Werkzeugparameter. Die enorme Funktionsvielfalt und die hervorragende Online-Hilfe, die übrigens kein anderes Programm dieser Art aufzuweisen hat, trösten jedoch ein wenig über diese Mängel hinweg. Erwähnenswert ist weiterhin, daß Charly Image ohne Probleme auf dem Falcon läuft und auch dessen Multitasking-Fähigkeiten voll ausnutzt. Im Hinblick auf den vielfachen Preis anderer Programme dieses Genres hat sich Charly Image im Test verlauf sehr wacker geschlagen. Allen, denen die etablierten EBV-’Götter’ eine Nummer zu groß sind, kann Charly Image daher guten Gewissens ans Herz gelegt werden.

Bezugsquelle:

Wilhelm Mikroelektronik GmbH
Süggelstr. 31
W-4670 lünen

Positiv

Negativ


Matthias Ficht
Aus: ST-Computer 01 / 1993, Seite 54

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