Kennen Sie Kandinsky? Vektorgrafiken „par excellence“

Es existieren viele Vektorgrafikprogramme für den ATARI. Aber nur wenige vereinigen Farbe, Multitasking-Fähigkeit und hohen Komfort in sich. Und bei der Frage nach dem Preis müssen viele kommerzielle Anbieter mit den Schultern zucken.

Kennen Sie Kandinsky? Nein, nicht den russischen Kunstheoretiker und Maler Wassily Kandinsky (1866 - 1944), sondern das Shareware-Programm „Kandinsky“ von Ulrich Roßgoderer. Wenn nicht, sollten Sie jetzt auf jeden Fall weiterlesen.

Vektor- oder auch objektorientierte Grafikprogramme eignen sich für viele Aufgaben im Grafikalltag oftmals besser als ihre pixelnden Kollegen. Ein Grund hierfür ist die nahezu geräteunabhängige Ausgabe der Bilder. Im Gegensatz zu Pixel- oder Rastergrafiken beinhalten objektorientierte Bilder nicht mehr die Koordinaten jedes einzelnen Punktes. Vielmehr ist jeder Bildteil, ein Kreis oder eine Linie, das Ergebnis einer mathematischen Definition. Diese Art Informationsliste enthält neben speziellen Objekteigenschaften wie Linienbreite, Kreisdurchmesser oder auch Füllmuster und Farbe die genaue Position des Vektorelements innerhalb der Grafik. Anhand dieser exakten Beschreibung schaffen Bildschirm- und Druckertreiber für jede beliebige Auflösung eine exakte Kopie der ursprünglichen Grafik. Wenn Sie in einer Pixel-Grafik einen Kreis zeichnen, so bleibt die Wiedergabe dieses Kreises nur in derselben Auflösung rund.

Erhöht sich zum Beispiel im Druck die Anzahl der gedruckten Punkte gegenüber der Anzahl der Bildpunkte, so eiert Ihr Kreis mehr oder weniger über das Papier. Bei der Vektorgrafik hingegen bleibt die Beschreibung in jeder Auflösung gleich, der Kreis bleibt ein Kreis.

Ein weiterer Vorteil der Verktorzeichnerei liegt in der relativ problemlosen Manipulation bereits fertiger Zeichnungen. Jedes einzelne Bildelement läßt sich durch einen Mausklick auf den Objektrahmen (ein Rechteck, das jedes Objekt umgibt) aufnehmen und im Bild neu positionieren. Ähnlich simpel verändern Sie Größe und teilweise auch Form der Elemente. Mit Hilfe spezieller Zugboxen am Objektrahmen vergrößern oder verkleinern ein paar Mausbewegungen das jeweilige Objekt. Natürlich sind nachträgliche Änderungen der Objektattribute, beispielsweise Farbe, Füllmuster oder Linienstil, auch nur ein paar Mausklicks entfernt. Wenn Sie so etwas mit einem Ausschnitt aus einer Pixel-Grafik versuchen, sind qualitative Einbußen in Form von Treppchen, Pixel-Müll und der Quadratur des Kreises unvermeidlich. Allerdings haben objektorientierte Grafikprogramme auch so ihre Nachteile. Das Zeichnen und Arbeiten unterscheidet sich erheblich vom Pixel-Knipsen, die Rechnerei und das Aktualisieren der Liste führt zum verzögerten Bildaufbau. und nicht zuletzt sind solche Anwendungen gar nicht so einfach zu programmieren.

Ein Beispiel guter Programmierkunst ist Kandinsky, das der Autor in der Version 1.55 als Shareware vertreibt. Kandinsky hält sich eng an die Vorgaben zur GEM- und Multitasking-Konformen Programmierung, somit läuft es auf allen ATARIs einschließlich Falcon ab 512 KB aufwärts. Es nutzt alle Auflösungen und dürfte sich mit allen VDI-kompatiblen Grafikkarten vertragen. Eine Voraussetzung für den problemlosen Betrieb ist jedoch ein installiertes GDOS. GDOS ist eine Art standardisierte Schaltzentrale, die sich um die Koordination von Gerätetreibern und um die grafische Ein- und Ausgabe via VDI (ein Teil des ATARI-Betriebssystems) kümmert. Ohne GDOS speichert und druckt der Malermeister keine Bilder. In diesem Zusammenhang sei einmal mehr der Hinweis auf das NVDI von Bela gestattet, dessen schnelles GDOS und verbesserte Grafikausgabe nicht nur unserem Vektorzeichner Beine machen.

Bild 2: Mit den Attributen im Dialog
Bild 3: Mit Kandinsky bekommt jeder einen leichten Schatten.

Der Schlüssel zum Erfolg

Nach dem Start Kandinskys fordert ein fliegender Dialog zur Registrierung mit Hilfe eines Schlüssels auf. Diesen Code erhalten Sie gegen Einsendung der 30 Mark Shareware-Gebühr direkt vom Programmierer. Falls Sie das Programm jedoch erstmal in Ruhe testen wollen, brechen Sie die Registrierung ab und verzichten damit auf ein paar kleine, aber feine Features. Ein weiteres Fenster fragt gegebenenfalls den Pfad für die BGI-Vektorzeichensätze ab, die sich im Lieferumfang befinden. Sind diese Hürden genommen, präsentiert sich der Vektorzauberer im aktuellen GEM-Look, wie Sie Bild 1 entnehmen können. Statt einer starren Icon-Leiste an jedem Arbeitsfenster, enthält eine Toolbox, eigentlich ein eigenständiges Fenster, alle notwendigen Zeichenwerkzeuge. Mit einem Mausklick wählen Sie hier über Icons die jeweilige Funktion. Sie müssen jedoch nicht erst umständlich das Fenster nach vom holen (toppen). Gleichzeitiges Drücken der rechten Maustaste und Auswählen der Funktion erlaubt das Bedienen auch aus dem Hintergrund heraus. Dies gilt natürlich auch für alle (unmodalen) Dialoge, die sich in Fenstern befinden.

Bild 4: Mit Zeichensätzen Zeichen setzen

In der Werkzeugkiste finden Sie die Utensilien zum Zeichnen von Linien, Polygonzügen, geometrischen Grundformen und Bezierkurven, die natürlich allesamt auch als gefüllte Flächen zur Verfügung stehen. Das Zeichnen im Arbeitsfenster gestaltet sich sehr angenehm. Ein Klick setzt beispielsweise den Linienanfang. Ohne das sonst übliche leidige Festhalten der Taste zeichnen Sie die Linie, bis ein erneuter Klick den Schlußpunkt setzt. Gerade beim Zeichnen komplizierter Polygonzüge oder beim Anlegen exakter Kreisformen ist diese „Click-Move-Click“-Philosophie sehr sinnvoll. Ein Mausklick rechts bricht in den allermeisten Fällen die Aktion ab. Das exakte Arbeiten wird durch das Koordinatenkreuz an der Mausposition und die Koordinatenanzeige in der Infozeile des Fensters unterstützt. Wer auf die Anzeige der momentanen Cusor-Position oder auf Bemaßungen in Millimetern verzichten kann, sollte zumindest die Infozeile abschalten. Das Zeichnen verläuft flüssiger ohne das ständige Aktualisieren der Zeile.

Ist ein Werkzeug aktiv, ruft ein Klick mit der rechten Maustaste im Zeichenfenster den zugehörigen Attribut-Dialog auf. Wie eingangs erläutert, besitzt jedes Objekt verschiedene Attribute, die Sie in den Dialogfenstern genauer definieren können. Linienzüge und Konturobjekte besitzen zum Beispiel als Attribute die unterschiedlichen Linienmuster und -breiten oder besondere Start- und Endpunkte an den Linien. Kandinsky widerlegt übrigens die Behauptung, ein Kreis habe keinen Anfang und kein Ende. Setzen Sie doch mal als Attribut für den Endpunkt ein Dreieck! Weitere Objekteigenschaften wie Füllmuster und -farbe bestimmen Dialoge bei flächigen Objekten. Apropos Farbe, Kandinsky erlaubt das Verwenden von bis zu 16 verschiedenen Tönen. Die monochrome Auflösung stellt diese als Graustufen dar. Leider existiert zur Zeit noch keine Farbpalette zum Mischen oder Wechseln der Farben.

Die Dialoge zeigen sich von der besten Seite. Die Eingabezeilen, zum Beispiel für die numerische Angabe der Linienbreite, enthalten alle gängigen Editierhilfen. Die meisten Knöpfe sind über Tastaturkürzel zu erreichen. Pop-Up-Menüs innerhalb der Dialogbox machen weitere Auswahlkriterien zugängig. Ein Klick auf „Farbe“ im Dialog „Füllattribute“ ruft beispielsweise die Menüauswahl der 16 Farben auf. Die momentane Einstellung entnehmen Sie den Anzeigefeldern innerhalb dieser Dialogformulare und so weiter.

Beim Festlegen der Füllattribute bestimmen Sie gleichzeitig, ob Umrandungen gezeichnet oder Objekte mit einem Schatten versehen werden. Es versteht sich von selbst, daß der Schatten einer Figur weitere Eigenschaften aufweist. Ein eigenes Füllmuster, unterschiedliche Farben, Grauwert und nicht zuletzt den horizontalen und vertikalen Abstand zum Objekt bestimmen Sie in einem weiteren Formular. Etwas vermißt habe ich ein Fenster, das alle momentanen Attribute, Einstellungen und Farben auf einen Blick zeigt.

Besonders gut gelungen sind unter anderem die Kreis- und Ellipsenbögen. Nachdem zwei Mausklicks Mittelpunkt und Radius bestimmt haben, legen Sie mit zwei weiteren Mausaktionen den Start- und Endwinkel fest. Was sich theoretisch ziemlich kompliziert anhört, ist in der Praxis angenehm einfach. Ähnlich verhält es sich mit dem Anlegen von Bézier-Kurven und -Flächen. Ein, zwei Versuche lassen schnell das Konzept erkennen, und die Ausführung gerät zum Kinderspiel. Unter dem Menüpunkt „Einstellungen/Bildschirm...“ schaffen Sie mit dem Festlegen der Bézier-Qualität zudem einen Kompromiß zwischen Genauigkeit und Berechnungsdauer.

Neben den reinen Zeichenobjekten stellt unser Testkandidat auch Text- bzw. Vektortextobjekte zur Verfügung. Der Unterschied: „Text“ stellt GDOS-Pixel-Fonts bereit, „Vektortext“ greift auf die frei skalierbaren Vektor-Fonts der Firma Borland zurück. Letztere weisen natürlich eine bessere Verarbeitungsqualität auf. Nach einem Mausklick auf das gewünschte Icon erlaubt ein weiterer Klick im Zeichenfenster die direkte Texteingabe. Die Zeilen hängen am Cursor und lassen sich mit der Maus verschieben, bis ein weiterer Klick den Text ablegt. Eine größere Textpassage läßt sich auch mittels Clipboard ins Bild einfügen. Ein fünfzeiliger Minimaleditor erlaubt zudem das Tippen mehrerer Textzeilen. Allerdings müssen Sie diesen Text ebenfalls zuerst im Clipboard speichern, bevor er in der Grafik erscheint. Wie bei den übrigen Attributen auch, ruft ein Mausklick rechts einen Dialog auf, der die Auswahl unterschiedlicher Fonts und weiterer Eigenschaften ermöglicht. Der Vektortext berücksichtigt neben Font-Höhe und dem Breiten/Höhen-Verhältnis auch die aktuellen Linienattribute. Zusätzlich ist der Drehwinkel in 1/10°-Schritten wählbar. Die Ausrichtung des Textes, also die Position der Textzeilen am Cursor definieren Sie über einen separaten Menüpunkt. Schade, daß die Textobjekte noch keine Farbe unterstützen.

Bild 5: The Wind of Changes, die Objekte im Wandel der Zeit

Ein Vektor bittet zum Klick

Um einzelne Bildelemente nachträglich zu manipulieren, müssen Sie diese zuvor selektieren. Ein Mausklick auf das entsprechende Icon versetzt den Zeichenknecht in den „Auswahlmodus“. Das Objekt erhält einen Selektionsrahmen mit Zugboxen. Da Vektorobjekte auch übereinander liegen können, ist es manchmal nicht einfach, ein bestimmtes Objekt zu selektieren. In diesem Fall klicken Sie solange, bis das gewünschte Objekt getroffen ist. Kandinsky arbeitet sich selbständig von oben nach unten durch die Schichten. Möchten Sie mehrere Elemente auswählen, halten Sie gleichzeitig die Shift-Taste und/oder ziehen bei gehaltener Maustaste eine Auswahlbox um die Objekte. Vom Auswahlmodus führt ein rechter Mausklick in schönster Calamus-Manier in den „Transformationsmodus“, erkennnbar an den Zugboxen, die sich jetzt am Selektionsrahmen befinden. In diesem Modus verschieben oder kopieren Sie Objekte beziehungsweise verändern deren Größe durch Bewegen der Zugboxen. Eine schöne Erweiterung ist der Korrekturmodus. Ist dieses Icon gewählt, lassen sich selektierte Objekte anhand einzelner Definitionspunkte im Detail beeinflussen. Zum Beispiel verändern Sie den Verlauf eines Polygonzuges und so weiter. Natürlich können Sie auch alle anderen Attribute umformen.

Die Quadratur des Kreises

Der Menüpunkt „Objekt(e)/ umwandeln in....“ beinhaltet ein kleines Schmankerl. Mit Hilfe des Pop-Up-Menüs wandeln Sie beispielsweise einen Kreis in ein Rechteck, eine Linie in einen Polygonzug oder einen Vektortext in einen Pixeltext. Die Transformation ist nicht besonders spektakulär, aber nützlich, wenn es darum geht, fertige Zeichnungen zu korrigieren. Überhaupt sind es die kleinen Hilfestellungen, die Kandinsky so liebenswert machen. Ob Sie einen bestimmten Abstand der Objekte untereinander wünschen oder eine besondere Position zu einem Bezugsobjekt; wenn Sie Bildteile auf den Kopf stellen beziehungsweise spiegeln und drehen möchten, Kandinsky kümmert sich darum. Für genauesten Durchblick sorgt der Zoom-Modus. Sie betrachten beziehungsweise bearbeiten Ihre Vektorgrafiken und deren Teilausschnitte in neun Zoom-Stufen. Neben dem Vergrößeren ist auch das Verkleinern in Form einer Seitenübersicht möglich.

Bild 6: Lassen Sie sich nicht nur Ihre Texte ausrichten.

Daten rein und raus

Neben dem schon angesprochenen Clipboard unterstützt Kandinsky auch den Export von Grafiken als PostScript-Datei! Eine beiliegende Datei wandelt die Bilder in den entsprechenden Sourcecode. Beim Import verdaut der Vektorzeichner zur Zeit außer seinem eigenen Metafile-Format (*.GEM) nur spezielle ASCII-Dateien. Die Bildinformationen dieser CSV-Dateien bestehen aus durch Kommas getrennte Zahlenkolonnen. Weitere Import- und Exportfunktionen fehlen. Dies ist zwar konsequent, schließlich ist Metafile das einzige von ATARI offiziell unterstützte (Vektor-)Format, jedoch ist das Tor zu anderen Vektorwelten verschlossen.

Was nützt die schönste Grafik, wenn Sie nicht schwarz (bunt) auf weiß nach Hause zu tragen ist? Fürs Drucken ist, wie gesagt, GDOS zuständig. Nach Aufruf der Funktion ermittelt Kandinsky zunächst die vorhandenen Druckertreiber, aus denen Sie gegebenenfalls den passenden wählen. Falls nötig, nehmen Sie noch ein paar Feinjustierungen, wie die Einstellung nicht bedruck barer Bereiche, vor, und ab geht die Paula. Das GDOS hat allerdings so manche Haken und Ösen, was die Handhabung betrifft. Anstelle des Druckers können Sie auch andere Ausgabegeräte wie Plotter, Grafiktablett, Diabelichter wählen, vorausgesetzt, Ihr System verfügt über entsprechende Gerätetreiber. Auf jeden Fall erlaubt die Funktion auch die Ausgabe im Querformat oder in verkleinerter Form.

Zum guten Schluß

Es sind beileibe nicht alle Features erwähnt. Seien es vielfältige Einstellungsmöglichkeiten. die Funktionen zum Bézier-Handling und noch mehr. Erwähnenswert ist mit Sicherheit auch das knapp 50seitige Handbuch, das jeder registrierte Anwender automatisch erhält. Am besten. Sie probieren die Demoversion aus, die sich auf unserer Monatsdiskette befindet.

Mich jedenfalls hat das Programm restlos überzeugt. Für den alltäglichen Einsatz hat es alles, was das Grafikerherz begehrt. Wer mehr will, muß schon ein paar Mark mehr für ein kommerzielles Programm lockermachen. Ein kleiner Fehler, der aber im nächsten Update verschwunden sein soll, sei noch am Rande erwähnt. Beim zweimaligen Sichern einer Grafik rumpelt es im Gebälk. Aber das ist auch wirklich schon alles!

Kandinsky

Positiv:

Saubere Programmierung
Einfache und durchdachte Bedienung
Günstiger Preis

Negativ:

Wenig Import- und Exportformate
Textobjekte etwas mager ausgestattet


Andreas Wischerhoff
Aus: ST-Computer 11 / 1993, Seite 136

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