Typografie - aber wie (4): Schriftversorgung

Daß sich in der ehemals nur begrenzten Verfügbarkeit der Satzbelichterschriften für das ATARI-DTP inzwischen einiges geändert hat, zeigte sich schon im letzten Jahr mit der Übertragung der hochwertigen Berthold-Schriften ins CFN-Format für die Arbeit im Calamus. Aber auch neue Entwicklungen fließen inzwischen schneller und im CFN-Format ins ATARI-Ländle. Lassen Sie uns einmal einen kleinen Blick in einige der neuen und kreativen Schriftenschmieden werfen, die ihre Fonts für die Arbeit im Calamus oder DA's Layout anbieten.

Serifenschriften finden in der Hauptsache im Mengensatz Verwendung. Und die Ansprüche, die hieran das Schriftbild gestellt werden, sind sehr groß - muß man doch in der Regel ein ganzes Buch mit dieser Schrift zubringen, ohne ständig über sie zu stolpern. Ein Grund dafür, daß Neuschöpfungen im Bereich der Serifenschriften recht selten sind, mag in dem hohen Arbeitsaufkommen liegen, solch eine Schrift mit all ihren Schnitten zu gestalten, sicher aber auch darin, daß gerade die Werbebranche im Moment immer mehr den schnellen Sehnerv kitzeln will und somit wirksame grafische Typographie verlangt: headlinetaugliche Schriften sind also angesagt. Und dieser Anteil der „Headlines" ist es denn auch, der in Massen von neuen Schriftenschneidern bedient wird. Zeitgeistschöpfungen, grafische Typographie und verspielte Gelegenheitseinfälle sind hier jede Menge zu finden.

Zu oft wird eine sichere Gestaltung und eine ebensolche Schriftwahl vor den Schritt zum kreativen Gestalten gesetzt, obwohl gerade die neueren Schriftgestalter durch ihre Schöpfungen den Layoutern und Grafikern im Desktop Publishing neue Richtungen weisen und für kreatives Arbeiten geradezu Adrenalin sein können. Zum Beispiel die Fonts von „Emigre".

Spielerische Typo

Das Typographiemagazin „Emigre", das Anfang der 80er Jahre von dem in Kalifornien lebenden Holländer Rudi Vanderlans ins Leben gerufen wurde, gilt schon seit langem als ein Geheimtip unter Typographen. Die Schriften von Zuzana Licko, seiner Frau, die mehr und mehr in „Emigre" zur Gestaltung der Artikel genutzt wurden, wurden schnell auch für andere experimentierfreudige Grafiker interessant. Inzwischen haben über das Label „Emigre" in den letzten Jahren einige dutzend neuer PostScript-Schriften den Weg in viele MACs und PCs gefunden. Schon seit einiger Zeit sind die Fonts von „Emigre" auch im CFN-Format erhältlich.

Typographischer Spieltrieb, Dada, ins Extrem gebrachte digitale Gestaltung - all das kommt in diesen in handwerklicher Perfektion gezeichneten Schriften zum Ausdruck. Der typographischen Tradition wird bei Emigre-Schriften somit ganz bewußt die Individualität des Typografen entgegengesetzt. Es sind Fonts von Schriftgestaltern, die wahrscheinlich vieles ernst nehmen, nur keine Anpassung an eine konventionelle Typographie.

Diese Schriften bedienen natürlich in erster Linie den Zeitgeist. Sie unterliegen damit einer Mode, die schon in einiger Zeit von einer anderen abgelöst sein wird. Hier liegt auch ein Problem in der Verwendung solcher Schriften für den DTP-Setzer. Schriften wie die „Remedy" (Emigre) oder „uhura" (Headliners) sind ideal für die „Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit". Wird diese zu häufig erregt, hat man sich auch an den Fonts sehr schnell sattgesehen. Es ist wie ein musikalischer Ohrwurm, der nach einiger Zeit eher lästig wird, wenn man ihn überall hört. Aber wer weiß, vielleicht ist ja auch der eine oder andere Evergreen dabei ...

Modula Tall, CFN, EMIGRE
Variex, CFN, EMIGRE
Lunatix, CFN, EMIGRE

Schnelle Typo

Es scheint in dieser Typographie nur eine Regel zu geben: die ständige und in jedem Font sichtbare Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten der Schrift. Da gibt es Fonts, bei denen die mangelhafte Qualität von vergrößerten Pixelfonts als Vorlage diente (Emigre, Oakland), was sich natürlich bewußt mit den aktuellen technischen Möglichkeiten reibt, die ja eine geradezu mikroskopisch exakte Zeichnung zum Standard machen und ihn dami auch für viele Anwender als „absolutes Muß" geradezu fordern. Es gib andere Fonts, in denen Strichstärken willkürlich gesetzt scheinen und im gesamten Zeichensatz völlig auf eine Kurvenzeichnung mit Béziers verzichtet wird (Journal). Oder man nehme die „Variex", die in der Gestaltung einzelner Zeichen wie runenhaft gestaltete Chiffren wirkt, und sich daher exzellent für grafische Arbeiten (z.B. die der Logogestaltung) oder natürlich auch „Zeitgeist-Layouts" und Headlines gebrauchen läßt.

Der zur Verfügung stehende Zeichenvorrat eines Fonts (mit max. 256 Plätzen) reicht bei einigen Emigre-Fonts manchmal nicht mehr aus, so daß beispielsweise die „Matrix" gleich in drei Dateien vorliegt, mit insgesamt 522 Zeichen! Bei aller spielerischen Freiheit der Konzeption, die diesen Schriften zu eigen ist, lassen sich viele Zeichensätze aber nicht nur für kurze und grafisch wirksame Headlines „typografisch" nutzen, sondern weisen auch eine sehr gute Lesbarkeit im Text auf, wie z.B. die Matrix.

Ein anderes Beispiel ist die „Remedy“. Da gehen einem zwar schnell Gedanken durch den Kopf wie „frech", „verspielt" und „quer gedacht“; sich konkrete Anwendungen vorzustellen, fällt aber schon schwerer. Doch auch dieser Font nutzt 2 Dateien, die sich, anders als bei den Schriftschnitten anderer Font-Familien, ergänzen. Und obwohl im zweiten Font die Zeichen weiterlaufen, scheint hier die kreative Spielwiese des Schriftgestalters gewesen zu sein. Typographisch nutzbar, grafisch nutzbar. Illustrierende Typographie.

Einige „Sonderzeichen“ aus der Remedy double extras, die sich hervorragend für kleine Illustrationen nutzen lassen.

Illustrierende Typo

Ein weiteres neues, auf dem PostScript-Markt aber mittlerweile bereits recht bekanntes Schriften-Label ist die APPLY Design Group. Eigenwillige und freche Typographie findet man auch hier jede Menge. Durch viele kalligraphische Schriftentwürfe, bei denen die einzelnen Zeichen ihr Eigenleben zu führen scheinen, schimmert immer etwas von dem Individualismus durch, der auch die Schriften von „Emigre" so erfolgreich gemacht hat.

Außerordentlich gebrauchsfähig sind diese Schriften natürlich vor allem in der grafisch angewandten Typographie. Aber auch die Zeichensätze, die mit „Schrift" im herkömmlichen Sinne erst einmal gar nichts mehr zu tun haben, besitzen eine starke kommunikative Wirkung: Zeichen, mit denen es Spaß macht, zu illustrativen Wirkungen zu gelangen, wie beispielhaft der „Ethno“-Font zeigt, dessen gesamter Zeichensatz nur aus schemenhaften Fragmenten alter, längst vergangener Kulturen zu bestehen scheint.

Liebhaber-Typo

Jean-Pierre Guerin unterrichtet seit 1969 an der Akademie der schönen Künste in Tournai, Belgien, in den Schwerpunkten Werbung, Comics, Typographie und Publishing. 1989 begann er, eigene Schriften zu entwickeln, übrigens noch auf dem ersten DIDOT-Font-Editor, um Fachbücher über Typographie zu illustrieren und natürlich auch, um Material für seinen Typographieunterricht zu haben.

Seit 1988 arbeitet er auf dem ATARI, den er und seine zur Zeit 70 Studenten auch im Unterricht einsetzen. Viele seiner Schöpfungen beruhen auf klassischen Vorlagen bis hin zu mittelalterlichen Schriften. Aber natürlich interessieren ihn auch moderne typographische Entwicklungen, wie sich an seiner Lungua-Familie zeigt (einer etwas gerundeten „Futura"-Variante mit „Bauhaus“-Elementen). Er selbst formuliert: Die Lungua-Familie folgt dem Weg, den die Futura gezeigt hat, ist aber runder und mehr 'italienisch' im Stil. Die De-Colines-Familie ist den großen 'romanischen' Schriften nachempfunden, die während der Zeit von Simon de Colines und seinem berühmten Schwiegersohn Robert Estiennes, der erstmals mit der Garamond druckte, verwendet wurden. Sie kann auch heute als Buchschrift sehr schön eingesetzt werden.

Die Schriften von Jean-Pierre Guerin werden als einzige der hier vorgestellten Schriften neben dem CFN-Format auch im DFN-Format von DA's Layout angeboten. Als PostScript-Fonts sind die Schriften von Jean-Pierre Guerin, im Gegensatz zu den anderen Fonts, nicht erhältlich. Es sind Schriften, die eben nicht für den kommerziellen Schriftenmarkt entwickelt wurden.

Alle Schriftanbieter senden Ihnen sicher gerne Muster ihrer Schriften zu. Normalerweise sind diese Unterlagen sogar kostenlos, bei umfangreicheren Katalogen wird eine geringe Schutzgebühr erhoben. Die Schriften von Emigre und Apply werden, neben den Schriften der „Headliner" und des

„Fontbüro", vom Flying Fonts Verlag Bremen/Köln vertrieben, die Kollektion von Jean-Pierre Guerin exklusiv von Digital Arts GmbH.

Collection Jean-Perre Guerin, 19 Fonts,
Originalentwürfe, 149,- DM.
Info: Digital Arts GmbH, Tel.: (02151) 39...

EMIGRE, APPLY, Preise 98,- DM je Schnitt im Paket,
Info: Flying Fonts Verlag
Tel.: (0421) 1690… und (0221) 249...

Aus der Collection Jean-Pierre Guerin. Diese Fonts sind auch im DFN-Format für DA's Layout erhältlich.
Concept two, APPLY Design Group
Monterrey, APPLY Design Group
Why Not, APPLY Design Group

Jürgen Funcke
Aus: ST-Computer 11 / 1993, Seite 68

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