Arbeiten mit LineArt 2, Teil 2

In der letzten DTP-Praxis haben wir uns mit einigen wichtigen Funktionen von LineArt beschäftigt. Daß dieses Modul einiges mehr zu leisten vermag, als das digitale Handbuch verspricht, wird manch ein Calamus/LineArt-Anwender sicher schon durch eigene Experimente herausgefunden haben. Es gibt aber auch Funktionen zu entdecken, die von den Programmierern so gar nicht vorgesehen waren und erst durch das Zusammenspiel mit anderen SL-Features „entstehen". Da ist zum Beispiel die im letzten Monat nur kurz angedeutete Frage: Wie lassen sich im Calamus fraktale Elemente mit LineArt erzeugen? Dieses Rätsel soll nun in aller Ausführlichkeit gelöst werden.

Daß im Calamus überhaupt so etwas wie fraktale Gebilde erzeugt werden können, liegt grundsätzlich im modularen Konzept des Calamus begründet. Ein Modul, wie z.B. LineArt, ist eben kein autonomes Programm, das sich unabhängig von den übrigen Programmfunktionen ins Layout-Programm einklinkt. Es greift, wie alle anderen Module auch, auf die bereits vorhandenen Programmfunktionen zurück und nutzt diese für seine ganz speziellen Aufgaben. Hier liegt beispielsweise auch der Grund dafür, warum ein so funktionales Modul wie das Maskenmodul nur eine Dateigröße von weniger als 10KB benötigt. Im Falle „LineArt und seine Fraktale" sind es, wer hätte es erraten, die im letzten Calamus SL-Update neu hinzugekommenen „Rahmenanker" des Textmoduls, die in LineArt den fraktalen Aufbau von Vektorobjekten erst ermöglichen. Da diese Rahmenanker ein besonderes Feature der SL-Version sind, bleiben die im folgenden beschriebenen Arbeiten auf diese Calamus-Version beschränkt und lassen sich mit Calamus S, trotz geladenen LineArts und ClipArts, nicht nachvollziehen.

Fraktale

Grundsätzlich können zur Erzeugung fraktaler Elemente im Calamus alle Vektorobjekte und somit auch ganz normal in Textrahmen gesetzter Text genutzt werden, der ja mittels LineArt und ClipArt in den Vektormodus verschoben werden kann. Als erstes Beispiel wollen wir einmal den bereits im letzten Monat angesprochenen „Farn" wachsen lassen. Als grafisches Ausgangsmaterial benötigen wir lediglich vier Vektorlinien, aus denen dann die gesamte Grafik aufgebaut wird.

Wir werden weiter unten noch sehen, daß hier keine Kopierfunktionen wie die „Mehrfachkopie" am Werk sind. Der Trick ist, daß die drei kleineren Vektorlinien, aus denen nachher das Blattwerk aufgebaut wird, jeweils virtuelle Kopien der Grundlinie sind, die über das Clipboard (Kamera) in den Rahmen der Grundlinie eingebaut werden. Das Resultat ist also eine Verkettung von virtuell kopierten Rahmen in einem einzelnen.

Spielen wir die Anlage unseres „digitalen Farns" einmal SchrittfürSchritt durch. Im Calamus ist voreingestellt: die „Virtuelle Kopie" (Menü: Optionen/Kopierart), die Module ClipArt und LineArt sind geladen. Auf der Dokumentenseite des Calamus ziehen wir einen kleinen Vektorrahmen auf und wechseln ins LineArt-Modul. Als Grundelement zeichnen wir nun eine Vektorlinie (ist z.B. als voreingestelltes Objekt im Bearbeitungsfeld für grafische Objekte vorhanden). Dieser Strich, der „Stengel" des späteren Farns, wird später die gesamte Zeichnung produzieren. Der ganze Rest der folgenden Konstruktion dient lediglich dazu, denselben Strich vielfach zu wiederholen.

Nachdem der Strich gezeichnet wurde, verlassen wir LineArt wieder. Auf der Dokumentenseite werden mit der Kamera des Hauptmenüs drei virtuelle Kopien des gerade erzeugten Vektorgrafikrahmens erzeugt. Kopiert wird dabei immer dieser Vektorgrafikrahmen mit unserer Grundlinie. Die Kopien werden dann in der Größe und Drehrichtung geändert, so daß folgende Linien entstehen: eine größere, um 5 Grad gedreht, und zwei kleinere, um 70 bzw. 290 Grad gedreht. Die beiden kleineren Linien positionieren wir neben, die größere über der Grundlinie. Sie sorgt für die Fortsetzung des Farns nach oben mit einer leichten 5-Grad-Biegung.

Objekte verschieben

Nun müssen nur noch die drei in einzelnen Vektorrahmen vorliegenden Linien in den Rahmen mit der Grundlinie verschoben werden, so daß sich alle Objekte in nur einem Vektorrahmen befinden. Wir wechseln also wieder ins LineArt-Modul, indem wir als erstes den Rahmen mit unserer Grundlinie selektieren und dann das LineArt-Modul über die Kopfleiste anwählen.

Wie auch im Hilfstext zum LineArt-Modul beschrieben, können alle Objekte des Calamus über eine Tastenkombination in einen Vektorrahmen verschoben bzw. kopiert werden. Zu diesem Zweck wird im Line-Art-Hauptmenü bei gedrückter linker Shift-Taste die Kopierfunktion (Kamera) einmal angewählt. Diese Funktion ist nur bei geladenem „ClipArt-Modul" aktivierbar. Das Kamera-Icon wird nun invertiert dargestellt, weiter passiert erst einmal nichts. Nun können aber die Rahmen angewählt werden, die von der „normalen" Dokumentenseite auf die Line-Art-Arbeitsfläche verschoben werden sollen.

Wir selektieren also den ersten der drei virtuell kopierten Rahmen und betätigen dann ein zweites Mal, nun ohne Shift-Taste, die Kopierfunktion. In der ersten daraufhin erscheinenden Dialogbox wählen wir „verschieben" und in der nächsten Box unter der Auswahl „Rahmen" oder „Objekte" den „Rahmen". Der gleiche Vorgang wird danach mit den beiden anderen Rahmen wiederholt.

Das war's eigentlich auch schon. Wenn nun ein Neuaufbau des Bildschirms ausgelöst wird (im Calamus auslösbar mit Taste „Clr Home"), wächst unser Farnwedel. Der größere Strich über der Grundlinie sorgt jetzt nach oben mit einer 5-Grad-Neigung. Die beiden anderen erzeugen die Seitenäste.

Da der Computer bei diesen fraktalen Objekten eine Menge zu rechnen hat, kann der Bildaufbau, so bei unserem Farnwedel, auch auf einem TT schon etwas dauern. Man kann ja anfangs erst einmal mit kleineren Objekten experimentieren, z.B. mit zwei virtuell kopierten Vektorobjekten, von denen das eine nur leicht gedreht und verkleinert wird. Durch eine auch nachträglich mögliche Neupositionierung der einzelnen Objekte zueinander wird sich dann immer wieder ein völlig anderer Aufbau der Grafik ergeben.

Die 3 Grundelemente, aus denen unser Farn wachsen wird. Der obere Strich bestimmt die Neigung, die beiden seitlichen Linien die Verästelung.
Über die LineArt-Kamera werden die 3 einzelnen Vektorrahmen in den Rahmen der „Basislinie" verschoben.
Wird nur ein einziger Rahmen eines fraktalen Elements in LineArt etwas verschoben, ändert sich der gesamte Aufbau der Grafik.

Anwendungen

Die einzelnen Schritte zur Erzeugung fraktaler Elemente noch einmal in aller Kürze:

  1. Die Module LineArt und ClipArt sind geladen, als Kopierart ist „Virtuelle Kopie" eingestellt.
  2. Ein vorliegendes Vektorobjekt (Basisobjekt) wird kopiert und in Größe, Drehwinkel, Farbe usw. geändert.
  3. Das Basisobjekt wird selektiert, dann wird ins LineArt-Modul gewechselt.
  4. Über das Kamera-Icon werden die virtuell kopierten Rahmen in die LineArt-Oberfläche verschoben (mit gedrückter Shift-Taste „Kamera" anklicken, gewünschten Rahmen anwählen, wieder anklicken, im Formular „verschieben" und „Rahmen" anwählen. Falls das Basisobjekt öfter virtuell kopiert und modifiziert wurde, den Vorgang auch mit diesen Objekten wiederholen.
  5. Neuaufbau des Bildschirms auslösen, das Fraktal wird aufgebaut. Falls das Ergebnis unbefriedigend ist, kann durch eine Neuanordnung der virtuell kopierten Objekte, z.B. durch eine andere Positionierung eines Objektrahmens in LineArt, ein anderes „Wachstum" des Fraktals eingestellt werden.

Dem gestandenen Calamus-Grafiker bietet die Erzeugung dieser fraktalen Gebilde natürlich erst einmal eine kreative Spielwiese, die mich selbst auch schon einige Nächte gekostet hat. Diese grafischen Möglichkeiten sind ja auch „nur" ein Nebenprodukt, das bei der Programmierung des Moduls als Funktion gar nicht geplant war. Zustande kommt derartiges, wie bereits gesagt, durch das Zusammenspiel der Module mit all der im Calamus schon vorhandenen Funktionalität; wer weiß, was es da noch zu entdecken gibt.

Nicht zuletzt können diese spielerisch erprobten Gestaltungsmöglichkeiten auch in der täglichen grafischen Gestaltungsarbeit von Nutzen sein, und darauf kommt es ja letztendlich an! So lassen sich auf diese fraktale Art und Weise wirksame und interessante Hintergründe für alle möglichen Anwendungen erzeugen, z.B. für Anzeigen, Prospekte usw., da sich ja auch typografische Elemente, Verlaufsobjekte (mit LineArt erzeugt) oder Logos auf diese Weise weiterverarbeiten lassen. Geht man dann einen Schritt weiter, kann ein so erzeugtes grafisches Objekt auch in ein Farbbild konvertiert werden (mit „Brigde" oder dem neuen Merge-Modul) und dann auch in Farbgebung oder Aufrasterung (z.B. mit 12% Grauwert für einen Hintergrund) weiter modifiziert werden.

Der Möglichkeiten sind also viele: es gilt, sie sinnvoll, aber durchaus sparsam zu nutzen! Man sollte tunlichst nicht gleich jede Funktion einer Software in der grafischen Arbeit anwenden, nur weil sie als spektakuläres Feature im Programm vorhanden ist. Derartige „das-kann-meine-Software-aber" -Produkte überschwemmen bereits täglich die Briefkästen in Form von Werbung, und auch die Anzeigenseiten der Zeitungen sind voll mit derartigen grafischen und typographischen Unsäglichkeiten. Es ist aber doch sehr beruhigend zu wissen, daß da noch mehr an Werkzeugen am Arbeitsplatz vorhanden ist, als einem vielleicht bewußt ist und als im Moment unbedingt benötigt werden, oder?


Jürgen Funcke
Aus: ST-Computer 02 / 1994, Seite 72

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