Die glorreiche Zeit des Atari ST erlebte an der Universität Oldenburg ihr spektakuläres Comeback, als am 17. Januar 2003 ein nicht wenig erstauntes Konzertpublikum im verdunkelten Kammermusiksaal von zehn Silber glühenden SM 124-Monitoren umringt wurde. Auf den Bildschirmen sprangen Punkte und Linien nach dem geheimen Plan ausgeklügelter Omikron-Basic-Programme hin und her, während zahlreiche kleine Lautsprecher die Ohren des Publikums mit „fraktaler Musik" beschallten.
Wollen Sie mehr über Live-Einsätze des Atari erfahren? Dann blättern Sie doch in Ausgabe 04-2002. Hier finden Sie einen Bericht über das Atari-Orchester von Jeremy Clarke.
Die Anfänge. Alles nahm 1987 seinen Anfang, als sich die Musiklehrerausbildung in Oldenburg vier Ataris anschaffte, um angehende Musikpädagoginnen und -pädagogen mit dem damaligen „State of the Art" vertraut zu machen. Nicht nur Logic und Cubase, sondern auch „Algorithmisches Komponieren" war seinerzeit im Lehrprogramm angesagt. Eine musikpädagogische Schriftenreihe entstand, die sich in zwölf Bänden den musikpädagogischen Dimensionen des Atari widmete. Konzerte wurden veranstaltet, Projekte wie „Brain and Body" oder „Das MIDI-Planetarium" tourten mit gut 100 Konzerten durch die Republik.
Und an vielen Schulen nahmen die STs ihren Einzug ins Klassenzimmer.
Als vor allem auf Druck des Hochschulrechenzentrums und der Studierenden 1995 das Atari-Zeitalter an der Universität Oldenburg zu Ende zu gehen schien, wurde der Atari-Bestand des Fachbereichs Musik durch eine Schenkung der universitären Elektroinikwerkstatt auf zwölf Rechner erweitert. Später kamen noch Privatankäufe hinzu, sodass das Fach Musik inzwischen über sechzehn Atari-Rechner verfügt. Immer wieder wurden im Rahmen des Projekts „TechnoMuseum" ein paar alte Ataris aus dem Depot geholt. Und - nebenbei gesagt - nur ein einziges Mal in der fünfzehnjährigen Karriere blieb bei einer Rave-Party ein Atari stecken, als die Bodenerschütterung das ihm erträgliche Maß überschritten hatte.
Anfang der 90er Jahre wurde in der Oldenburger Musikausbildung auch „programmiert", es wurden kleine Computermusik-Kompositionen verfasst. Bekanntlich ging das leicht von der Hand, denn auch Zeitschriften wie Keyboards und später KEYs gaben Insidertips. Auch Nicht-Mathematiker konnten in ein bis zwei Stunden interessante Musikstücke eintippen und zum Laufen bringen. Obgleich mittlerweile ein Informatikstudent auch eine Visual-Basic-Maske zur Realisierung von Atari-BASIC-Progammen am Microsoft-Windows-PC erstellt hatte, blieb der Reiz des Einfachen weiterhin bestehen.
Mit einer Gruppe von fünf Studenten machte ich mich im Dezember 2002 an die Realisierung der Idee, algorithmische Kompositionen für möglichst viele Ataris unseres Depots zu erstellen. Bei einem Teil der Stücke sollten die im Raum verteilten Computer voneinander unabhängig spielen, bei anderen Stücken wiederum sollte es einen gemeinsamen Groove geben. Letzteres wurde dadurch erreicht, dass ein „Dirigenten-Atari" auf zwölf Kanälen MIDI-Signale unterschiedlich rhythmisierter Patterns von sich gab, die die einzelnen Ataris dann verarbeiteten. Als Klangquelle dienten einfache General-MIDI-Soundmodule mit Lautsprechern, sodass nicht nur Bildschirm und Computer, sondern auch der Klang im Raum verteilt war.
Schnell erkannten die Studenten-Komponisten, dass man mit einfachen Zufalls-Tonfolgen, also letztendlich einem Programm von zehn bis zwölf Zeilen BASIC, den Kammermusiksaal in einen faszinierend schwirrenden Bienenschwarm verwandeln konnte. Wenn dann noch der „Zufallsradius" an den einzelnen Computern improvisatorisch von Hand erweitert oder eingeengt wurde, war die erste interaktive Raumklang-Komposition bereits perfekt. Das Publikum jedenfalls saß bei der Vorführung zwanzig Minuten lang gebannt und lauschte dem Stimmengewirr.
Andere Kompositionen liefen strukturierter ab. Die einzelnen Programme verwendeten Rechenformeln aus der Chaostheorie und fraktalen Geometrie. Der Dirigenten-Computer fügte diese Strukturen rhythmisch ineinander, sodass sich der Eindruck eines koordinierten Raumorchesters ergab. Zum Abschluss erklang die Simulation eines Stücks von Steve Reich für zehn Klaviere mittels des „Bifurkations-Algorithmus" mit knallhart synchroniserten Klavier-Ostinati.
Atari live! Da das Konzert im Rahmen einer Reihe mit Neuer Musik stattfand und das Publikum eher Instrumental- oder Elektronik-Musik vom Stile Karlheinz Stockhausens oder John Cages gewohnt war, war der „minimalistische" Ansatz unserer fraktalen Atari-Musik ein unerwartetes Event. Gemäß der Ästhetik algorithmischen Komponierens gab es ja keine „Botschaft", die irgendein Komponist seinem Publikum vermitteln wollte. Vielmehr hatte das Publikum die leidige Aufgabe, sich selbst seinen Reim auf die Klänge zu machen, die „bedeutungslos" durch geometerische Formeln gesteuert durch den Raum flogen.
Insgesamt war unser Atari-Projekt nicht nur eine nostalgische Revival-Show, sondern auch eine zukunftsweisende Installation von Computerkunstmusik. Um ein Dutzend Computer im Raum zu verteilen und dann über sehr lange MIDI-Kabel miteinander zu verbinden, ist ein großes Wagnis - derzeit werden Glasfaserkabel erprobt, die dies Problem lösen sollen. Üblicherweise dürfen solche Verbindungen nicht länger als fünf Meter sein, bei unserem Projekt jedoch benutzten bis zu zwanzig Meter MIDI-Kabel. Probleme gab es nicht. Der von uns verwendete MIDI-Datenfluss war dank der extrem einfachen Atari-Schnittstelle so unscheinbar gering, dass es niemals einen der berüchtigten Midi-Staus oder gar einen Dropout gegeben hat.
Und schließlich darf man die überaus einfache und jedem Musikstudenten zugängliche Art der „elementaren Musikprogrammierung" beim Atari nicht gering schätzen. Wenn heute mehrere Megabytes schwere Sequenzerprogramme mit dem Slogan locken, dass die Technik den Weg zu Kreativität frei gemacht habe, dann ahnt jeder Musiker, dass dies eine trügerische Versprechung ist - er weiß es spätestens dann, wenn bereits nach einem Jahr ein neues Programm-Update das RAM seines Rechners sprengt oder die Taktfrequenz überbeansprucht. Wer jedoch einmal am Atari in BASIC ein paar Musikstücke selbst Zeile für Zeile zusammengestellt und eingetippt hat, der hat erfahren, dass Kreativität nicht von raffiniert blinkenden Oberflächen stimuliert wird, sondern vom Hören auf Basis-Ereignisse, auf Zeitabläufe, auf oszillierende Strukturen. Unser Atari-Orchesterkonzert mitfraktaler Musik hat dies Wissen in ansprechender Form sogar auf ein fachfremdes Publikum übertragen können, stc
Infos
MIDI-Planetarium: www.uni-oldenburg.de/musik/planet/midipl.html
Brain and Body: www.uni-oldenburg.de/~stroh/brainandbody/
TechnoMuseum: www.uni-oldenburg.de/~stroh/techno/
Die Programme des Konzerts: www.uni-oldenburg.de/~stroh/fractalmusic/quellcode.htm
Algorithmische Programme des Autors: http://myatari.net/issues/aug2002/algojwls.