Soft Story: Harlekin

Während die Systemeinstellungen noch an das klassische Kontrollfeld erinnern, ähneln Funktionen wie der Editor und Manager ausgewachsenen Programmen.

Es steht für die Gigantomanie unter den Accessories, markiert das Ende einer Ära und treibt Software-Archäologen auch dreißig Jahre später in den Wahnsinn. Das Multi-Accessory Harlekin hat sich wahrlich eine Soft-Story verdient.

Am Anfang stand das TOS – und TOS war nur Singletasking. In 1st Word eine Diskette formatieren, ohne das Programm zu verlassen? Unmöglich. Aber es gab ja noch die Accessories, angefangen mit dem Atari-eigenen Kontrollfeld. Viele Accessories erschienen, die meisten als Public Domain, andere kommerziell. Deren Zahl war aber auf sechs beschränkt. Da half nur ein Accessory-Switcher, oder ein Multi-Accessory. Letztere wurden im Laufe der Zeit immer mächtiger: Die ersten Multi-ACCs besaßen nur Funktionen, die Entwickler mit wenigen Zeilen Code implementieren konnten, doch spätere Exemplare konnten sich mühelos mit ausgewachsenen Programmen messen.

Schon die Aufteilung der Werbung in mehrere Teile sollte demonstrieren, dass es sich bei Harlekin um eine mächtige Software handelte.

Ein Harlekin!

Diese Entwicklung wurde durch Atari indirekt begünstigt: STs mit 2 oder 4 MB RAM wurden immer erschwinglicher, aber ein Multitasking-TOS ließ weiter auf sich warten. Mit XControl sollten zumindest die Accessory-Plätze besser genutzt werden, aber das modulare Kontrollfeld hatte eine große Einschränkung: Kontrollfelder dürften nicht beliebig groß sein.

Ende 1989 kam Harlekin auf den Markt und wurde von Maxon (Twist, ST-Computer) vertrieben. Der Umfang der ersten Version konnte die Fachmagazine bereits überzeugen: Sicher, Taschenrechner, Druckerspooler, RAM-Disk und Formatier-/Kopierprogramm gab es schon vorher als Accessories, aber Harlekin hörte bei diesen Funktionen nicht auf. So gehörte ein kompletter Texteditor mit eigener Menüleiste dazu, ein Terminal, Diskettenmonitor und ein eigener Fonteditor, um den Bildschirmfont zu ändern. Die Standard-Dateiauswahl wurde von Harlekin durch ein Eigengewächs ersetzt, welches mehr Funktionen bot. Dazu noch eine flexible Datenbank, die sich auch zur Terminverwaltung eignete. Das ST-Magazin meinte zu dem 129 Mark teuren Programm: „Harlekin ist ein Programm, wie es der ST bislang nicht gesehen hat [...] ein vergleichbares Programm gibt es selbst im Macintosh- oder PC-Bereich nicht“. Die Funktionsvielfalt hatte ihren Preis: Harlekin I verlangte 300 KB Speicher.

Modular

1991 erschien Harlekin II, die Entwickler nutzten die Zeit, dass Konzept zu überarbeiten: Statt einem monolithischen Accessory, wurde Harlekin eine Art Programmmanager für nachladbare Module, die HPGs. Der Speicherbedarf konnte so gesenkt werden, da die einzelnen Programmteile nun bei Bedarf geladen wurden. Die einzelnen Module bekamen zusätzliche Funktionen: Die Datenbank erinnerte an Termine, die Größe der RAM-Disk war nun dynamisch und die Dateiauswahl erhielt eine History-Funktion. Die Ausgliederung der Module öffnete Harlekin für externe Entwickler, die ST-Computer startete sogar einen Kurs für die Entwicklung von HPG-Modulen.
Die TOS war in ihrem Testbericht von Funktionen und der Kompatibilität überzeugt. Redakteur Christian Opel prüfte sogar erfolgreich, ob sich Harlekin II zusammen mit dem großen Konkurrenten Mortimer betreiben ließ.
Der Sprung auf die Version 3 fiel dann nicht ganz so deutlich aus: Detailverbesserungen und Anpassungen an die aktuellen Trends (Farbe, Falcon, MultiTOS) standen auf dem Programm. Doch obwohl Harlekin gerade im Vergleich zu Mortimer als das „sauberere“ Programm galt, stellte das ST-Magazin Unverträglichkeiten mit dem Falcon fest. Zudem verwies das Magazin darauf, dass bei echtem Multitasking Accessory-Konstrukte wie Harlekin zunehmend überflüssig würden.
Die große Zeit der Multi-Accessories ging also langsam zu Ende. Nimmt man die Berichterstattung über Harlekin als Maßstab, gehörte das Programm aber zweifellos zum kleinen Kreis der Atari-Anwendungen, an denen kein Magazin vorbei kam: Ob Harlekin 1, 2 oder 3, jede Version wurde von den drei großen Magazinen getestet.

Werbung

Maxon nutzte den Heimvorteil und stellte Harlekin mit ganzseitigen Anzeigen in der ST-Computer vor. Für die Werbung wählte Maxon einen ungewöhnlichen Ansatz und konzentrierte sich in jeder Ausgabe auf einen anderen Teil des Multi-Accessories. In der dritten Folge war dies zum Beispiel der Terminplaner und die Datenbank. Konkurrent Mortimer wurde indes in anderen Magazinen intensiv beworben.

Sagenumwoben

Über die letzte Version von Harlekin berichtete kein Magazin mehr. In der Ausgabe 01/1996 meldete die ST-Computer im Rahmen des proTOS’95-Messeberichts, dass Harlekin 95 nun ausgeliefert würde. 1995, dieses magische Jahr, welches nicht nur Microsoft dazu bewegte, die klassische Versionsnummer aus dem Produktnamen zu streichen. Zwei Tage vor der Messe soll Maxon mit der Auslieferung begonnen haben, auf dem „dicht umlagerten Stand“ wurden „alle mitgebrachten Update-Pakete ausverkauft“. Kompatibel zu MagiCMac war Harlekin nun und der Editor wurde mit der Unterstützung verschiedener Vektorschriftarten zu einer Art primitiver Textverarbeitung. Pflichtbewußt bewarb Maxon Harlekin 95 zusammen mit anderen Programmen (Xboot 3, CrazySounds) in jeder Ausgabe, aber einen Testbericht gibt es nicht mehr.

Harlekin III mit Farbicons.

Eben dieses „Abtauchen“ eines vorher so präsenten Programms beschäftigt einige ST-Fans bis heute: Existierte Harlekin 95 vielleicht gar nicht? Zwar wurde Harlekin 95 nicht nur von Maxon angeboten, aber außer der Maxon-Werbung existiert kein Bildmaterial, kein Testbericht und keine Demoversion. Zumindest für den fehlenden Testbericht gibt es eine mögliche Erklärung: Die ST-Computer wechselte mit der Oktober-Ausgabe den Verlag und mit MagiC gab es ein schnelles Multitasking-Betriebssystem. Außerdem wurde die Seitenzahl der ST-Computer reduziert, die letzte Ausgabe unter alter Leitung hatte nur 68 Seiten. Der Preis von Harlekin 95 wurde von 159 auf 119 Mark gesenkt.
In der Gruppe maus.sys.atari.st bestätigten Ende 1995 mehrere Nutzer, Harlekin 95 erhalten zu haben. Seit 2016 tauchten immer wieder Fragen nach der letzten Version von Harlekin auf. Nun ist Harlekin 95 bei weitem nicht das einzige „verschollene“ Programm, aber es ist wohl das Wissen um die Existenz des Programms und die Unmöglichkeit, einen Besitzer zu finden, die einige Atari-Fans immer wieder nach dem Programm fragen lässt.

Fazit

Harlekin gehört zu den Atari-Anwendungen, die ihre Zeit hatten, aber letztlich den Atari nicht nachhaltig geprägt haben. Mit der Verfügbarkeit von MagiC & Co. waren die großen Multi-Accessories überflüssig geworden. Wäre TOS früher zu einem echten Multitaskingsystem gereift, hätte es Harlekin in dieser Form nie gegeben. Ein Geheimnis bleibt, wie viele Kopien von Harlekin 95 tatsächlich existieren: Wie viele reisten zur proTOS, um ein Update zu erwerben? Für ein Programm, welches schon in Version 2 quasi alle Ansprüche erfüllte?

Die Briten bekamen 1994 Harlekin 2 als Coverdisk-Vollversion in der Atari ST Review.

Mia Jaap
Aus: ST-Computer 06 / 2019, Seite 44

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