Moderne Technik für antike Apparate

Zwei Tüftler gewannen mit dem ST und einer raffinierten Idee den diesjährigen Bundeswettbewerb »Jugend forscht«

Bild 1. Symbiose aus moderner Technik und »guter alter Zeit«: Mit ST, MIDI-Keyboard und einer pneumatischen Stanze stellen Frank Enkelmann (links) und Ronald Hempel Lochstreifen zur Steuerung von Drehorgeln her.

Wie man eine ungewöhnliche Problemstellung durch die elegante Verknüpfung ganz unterschiedlicher Technologien löst, das zeigten in diesem Jahr die Bundessieger aus »Jugend forscht«. Ronald Hempel und Frank Enkelmann ersannen und bauten eine Apparatur, um Lochstreifen zur Steuerung von Drehorgeln schneller herzustellen. Die traditionsreichen »Leierkästen« werden seit ihrer Erfindung — lange Zeit vor Anbeginn der EDV-Ära —mit Musikinformationen von gestanztem Papier oder ähnlichen Verfahren gespeist. Solche Musikkonserven in Streifenform entstanden seit eh und je in mühseliger Handarbeit. Ihre Herstellung war begabten Spezialisten Vorbehalten. So entstand Anfang 1988 eine unkonventionelle Lösung, ganz im Geschmack des modernen Informationszeitalters. Zunächst in den Köpfen der beiden Auszubildenden. Dann auf dem Reißbrett und schließlich an der Werkbank und im Elektroniklabor der Motoren- und Turbinen-Union (MTU) in Friedrichshafen. Dort befinden sich Ronald und Frank in der Ausbildung zum Industriemechaniker.

Foto: Peter Thomann. Stern

Drei Komponenten bilden eine Einheit: Da ist zunächst das Eingabegerät, ein Synthesizer mit MIDI-Schnittstelle, über die das System per Klaviatur mit neuer Musik versorgt wird. Die Ausgabe besorgt eine pneumatische Stanze, die nicht nur neue Lochstreifen »druckt«, sondern auch fertige — alte wie neue — einlesen kann. Zentrales Steuerorgan der Anlage ist ein Atari 1040 ST. Er sorgt dafür, daß die Musikdaten richtig umgesetzt werden, und gestattet jede Art der Kontrolle beim Editieren, Duplizieren, Ein- und Ausgeben. Ganz gleich ob von »La Paloma« oder der »Fischerin vom Bodensee«.

Grund genug für uns, die beiden in ihrer Heimat in Langenargen und Oberteuringen am Bodensee zu besuchen und der bemerkenswerten Unternehmung auf den Grund zu gehen.

Zunächst wollen wir natürlich wissen, wie alles angefangen hat. Frank erzählt die Geschichte, die er schon so oft zum besten gegeben hat. Nach der Prämierung der Bundessieger im Mai waren beide immer wieder Anlaufpunkt für Medienleute aller Art gewesen. »Ein guter Bekannter hatte sich eine Drehorgel zum Selbstbauen gekauft. Als dann der Bausatz fertig war, das war im November letzten Jahres, klagte er über das Dilemma mit den Lochstreifen zur Steuerung der Orgel. Die sind sehr teuer, weil sie sich nur mühselig herstellen lassen. Irgendwann sind wir dann auf die Idee gekommen, daß das ja mit Computersteuerung und der richtigen Peripherie ganz einfach geht.« Und Ronald weiß zu berichten: »So ein Lochstreifen steuert ja alle Funktionen der Orgel. Alle Pfeifen, alle Register und so weiter. Die Streifen wurden bisher ausschließlich von Hand angefertigt. Da hat dann der Orgelbaumeister tagelang kleine Löcher in Papier geschnitten, über die Orgel abgehört, Löcher wieder zugeklebt, verändert, repariert und bestimmt nicht selten mal über den einen oder anderen Riß oder ein schiefes Loch geflucht. Wenn dann alles fertig war, hatte er eine Vorlage, um so eine Art Durchschlag anzufertigen. Da wurden dann beispielsweise zehn Streifen zum Kopieren unter das Original gelegt und alle Löcher durchgestanzt. Es passierte sehr schnell, daß das Mutterband beschädigt wurde. Außerdem wichen die Kopien immer wieder mal geringfügig vom Original ab. Wenn man nachher beim Spiel der Orgel diese Gangabweichung vielleicht noch nicht hören konnte, so fielen Ungenauigkeiten doch irgendwann bei einer Kopie der Kopie oder späteren Vervielfältigungen auf.«

Bild 2. Die Stanze ist gleichzeitig »Drucker« und »Scanner«. Im druckenden Teil (hinten) entstehen neue Lochstreifen, der Scanner (vorne) liest fertige Streifen zur Nachbearbeitung oder Speicherung in den Computer ein.

Nach welchem Funktionsprinzip ist nun so ein Lochstreifen aufgebaut? Frank: »Das ist im Prinzip ganz einfach.« Stolz kramt er eines dieser selbstgedruckten Steuerbänder hervor, eine etwa 15 cm breite Papierrolle mit einer Unzahl von Ketten aus stecknadelkopfgroßen Löchern, und demonstriert am praktischen Beispiel: »Ich weiß, eine viertel Note entspricht auf dem Band vier Löchern hintereinander. Der Abstand der Löcher vom Rand bestimmt die Tonhöhe. Dafür gibt es Schablonen. Dann sind da noch weitere Informationen, abgesetzt von den Tonhöheninformationen, in denen die Register, also Akkorde, codiert sind. So einfach ist das.«

Wie liest denn so eine Drehorgel einen Lochstreifen ohne Lichtschranken?

Musikkonserve auf Lochstreifen

Ronald und Frank grinsen ein wenig bei dieser Frage: »Das ist auch ganz simpel«, sagt Ronald, »die Löcher dienen als Durchlaß für Druckluft, die dann das Auf und Zu der Ventile für die Orgelpfeifen steuert.«

Natürlich wollen wir wissen, wie sich die beiden das nötige Know-how beschafft haben. Ronald: »Hier ganz in der Nähe, in Überlingen, wohnt einer der letzten Drehorgelbaumeister Deutschlands. Der Josef Raffin ist so einer, der auch die Papierstreifen noch selbst macht. Der hat uns das alles ganz genau gezeigt. In Überlingen wird der gesamte Streifen erst vorgezeichnet und dann Loch für Loch ausgestanzt. Dazu hat Josef Raffin eine Stanze mit Hubmagneten und Fußschalter. Wenn man bedenkt, daß sich auf 10 cm im Durchschnitt ungefähr 100 Löcher befinden, kann man sich vorstellen, wie lange es dauert, bis eine ganze Rolle mit mehreren Metern Band fertig ist.« Und Frank fügt noch hinzu: »Wir konnten es zuerst gar nicht glauben, daß so etwas heute noch von Hand gemacht wird.«

Wie lange dauert ein durchschnittliches Musikstück dann etwa?

Ronald: »Das kann man gar nicht so genau sagen. Das hängt zuerst einmal davon ab, ob man das Stück nach Gehör auf den Lochstreifen umsetzt oder direkt vom Notenblatt. Wenn man das Notenblatt direkt eins zu eins übernehmen kann, dann ist so ein Lochstreifen schon in einigen Stunden fertig.« Und Frank ergänzt: »Meistens kann man aber den Klaviernotensatz nicht direkt übernehmen. Das Arrangement für eine Drehorgel muß ganz anders sein, sonst klingt das Endergebnis fad. Auf der Drehorgel gibt es viel mehr Triller. Wenn also der erste Lochstreifen fertig ist, hört man sich ihn erst einmal an, korrigiert und ergänzt, bis schließlich das Endergebnis steht. Wie lange das dauert, hängt natürlich auch ganz wesentlich von der Erfahrung des Orgelbaumeisters ab.«

Das hört sich sehr mühselig an. Wer hätte schon soviel handwerkliche Kleinarbeit angesichts der musikalischen Lustbarkeiten vermutet, wie sie auf Volksfesten immer wieder zu sehen sind. Wo denn die Vorteile der computergesteuerten Stanze gegenüber dem historischen Verfahren liegen, wollen wir von den beiden wissen. Frank und Ronald erklären die Funktionsweise Schritt für Schritt anhand ihrer Originalaufbauten. »Zuerst einmal ist natürlich alles viel präziser«, sagt Frank. »Die Abstände der Löcher sind immer ganz genau gleich groß. Das war früher nicht so. Da konnte es schon mal passieren, daß, wenn ein Loch an der verkehrten Stelle saß, zwei Pfeifen statt einer Luft bekamen. Außerdem stehen die Löcher sehr dicht beieinander. Wenn die dünnen Stege zwischen den Löchern beim Stanzen von Hand brachen, sind lange Löcher entstanden, die dann wieder dazu führten, daß das Papier sich bei Belastung verzog. Bei unserer Maschine gleichen die Lochstreifen einander wie ein Ei dem anderen. Klar, daß wir über den ST beliebig viele Kopien von einem Musikstück anfertigen können. Das ist nur eine Frage der Zeit.« Und wie kommt das »Hoch auf dem gelben Wagen« vom Notenblatt in die Drehorgel? Dazu Ronald: »Wir können jedes Musikstück in Echtzeit auf dem MIDI-Keyboard abspielen. Der ST arbeitet dann als so eine Art Tonbandrecorder. Wir haben so ein Abtastraster programmiert, daß die kleinste zeitliche Auflösung gut für die Eingabe eines Trillers ausreicht. Das ging übrigens in ST-Pascal recht bequem.

Bild 3. Das Funktionsprinzip der ganzen Anlage auf einen Blick. Der ST steuert alle Geräte als Ein- und Ausgabeeinheiten.
Bild 4. Der »Lochstreifen-Editor«. Er ist das zentrale Kontrollprogramm zur Ein- und Ausgabe aller Musikdaten.

Anschließend hört man sich die Melodie auf dem Synthesizer wieder an. Der simuliert dann die Drehorgel. Man ändert nun das Stück so lange, bis es perfekt klingt, und erst dann wird der erste Streifen gedruckt. Der ist in der Regel sofort einsatzfähig. Man kann aber auch auf das Keyboard verzichten und ein Musikstück ganz und gar am Bildschirm eingeben.«

Frank setzt die technischen Ausführungen seines Freundes fort: »Natürlich können wir alle Daten auf der Diskette jederzeit speichern, um auch später wieder Lochstreifen zu stanzen oder Änderungen vorzunehmen. Besonders bequem und vielseitig ist es auch, ältere Streifen über die Einlesevorrichtung abzutasten und in den ST einzuspeisen. Damit bietet die Anlage eigentlich alle erdenklichen Freiheiten für neue Musik und für Kopien. Vielleicht noch ein paar Daten, die Ihre Leser interessieren dürften. Mit dieser Anlage und mit etwas Erfahrung kann jeder ein Musikstück innerhalb von etwa einer halben Stunde auf Lochstreifen umsetzen. Die Stanzgeschwindigkeit beträgt 81,5 cm in der Minute, die Lesegeschwindigkeit 130,5 cm in der Minute. Auf eine Diskette passen 690 m Lochband und in den Arbeitsspeicher bei uns bis zu 500 m. Das entspricht etwa 70 bis 90 Musikstücken.«

Wie funktioniert die elektronische Seite der ganzen Anlage, und wie habt Ihr die Stanze an den ST angeschlossen?

»Bei der Elektronik haben wir fast nur fertige Platinen und Bausätze verwendet«, erklärt Ronald, »wir hatten mit der Mechanik und der Programmierung schon genug zu tun. Das Interface ist von Dela Elektronik. Das ist ein Steuerbus mit 64 Ein- und Ausgängen. Die Leseelektronik des Scanners ist selbstgebaut. Sie arbeitet mit Infrarot-Dioden, damit seitlich einfallendes Tageslicht nicht stört. Der andere Kleinkram sind hauptsächlich Standardbauteile.«

Bild 5. Krönung des Erfolgs: Frank und Ronald bei der Preisverleihung durch den Bundeskanzler

Die Sache mit dem Wettbewerb

Die Idee, mit diesem Experiment an »Jugend forscht« teilzunehmen, wie ist sie entstanden?

Frank schildert den Hergang: »Die Überlinger Orgelbauer haben selbst schon mit automatischen Stanzen experimentiert, sind dabei aber nie auf einen grünen Zweig gekommen. Als wir dann spontan die Idee hatten, so etwas auf eine computergesteuerte Anlage umzusetzen, haben wir auch gleich daran gedacht, damit an ’Jugend forscht’ teilzunehmen, das war damals in der Firma gerade ein aktuelles Thema. Zunächst natürlich nur auf Regionalebene. Man bewirbt sich ja nicht gleich im Bundes Wettbewerb. Im regionalen Wettbewerb hatten wir auf Anhieb großen Erfolg, obwohl unsere Stanze damals noch computerunabhängig arbeitete. Sie konnte damals erst Lochstreifen kopieren und bestand nur aus Scanner und der Stanze. Als wir dann über den Landeswettbewerb in den Bundeswettbewerb aufstiegen, haben wir das Gerät auch gleichzeitig immer weiter ausgebaut. Zuerst mit dem ST und dann noch mit dem Synthesizer.«

Eine recht exotische Maschine haben Ronald und Frank da angefertigt. Als wir die beiden darauf ansprechen, nicken Sie zustimmend. Haben sie sich denn damals Wettbewerbschancen mit so einer ausgefallenen Idee ausgerechnet?

Die Antwort kommt spontan. Dazu Ronald: »Unser Vorteil bei dem Thema war, daß wir eine Verbindung aus Mechanik, Elektronik und Computer geschaffen haben. Gleichzeitig war auch die Verbindung zwischen sehr alter und neuer Technik da. Viele bewerben sich mit Anwendungen aus nur einer Fachrichtung. Wir haben dann zusätzlich zum Bundespreis ja auch noch den Preis für das originellste Thema bekommen.«

Wie lange hat das ganze Projekt gedauert?

»Alles in allem zwei Monate«, sagen die beiden.

Wir sind nicht wenig erstaunt.

»Natürlich hatten wir auch einige Probleme, bevor die Anlage richtig lief«, erklärt Ronald, »nicht mit dem Computer oder dem Programm, das lief relativ schnell. Das mit dem Stanzen stellt man sich natürlich einfach vor, aber da sind sehr enge Toleranzen einzuhalten. Die meisten Schwierigkeiten hatten wir mit der Mechanik. Der Stempel schlägt mit Druckluft herunter und wird mit einer Feder wieder hochgetrieben. Das Papier muß immer straff sein, schon das war mit großen Schwierigkeiten verbunden. Dann wird das Papier mit einem Schrittmotor Stück für Stück, Loch für Loch transportiert. Der Stanzer muß im richtigen Moment zustechen. Wenn sich das Papier dabei bewegt, reißt es natürlich. Dann muß der Papiertransport absolut exakt sein, damit das Papier nicht schräg durchläuft und so weiter. Da waren schon eine Menge Details zu beachten.« Und Frank meint: »Wir waren natürlich so ehrgeizig, geschwindigkeitsmäßig das Letzte aus der Maschine herausholen zu wollen. Für den Wettbewerb haben wir das Tempo dann sicherheitshalber doch wieder ein ganzes Stück heruntergefahren, damit auch alles hundertprozentig funktioniert.«

Woher hattet Ihr denn die Materialien zum Bau der Pneumatik, der Stanze und das elektronische Drum und Dran?

Frank zählt auf: »Den Atari ST hatten wir schon. Die mechanischen Bauteile hat unsere Firma uns zur Verfügung gestellt. Dort durften wir auch an unserer Maschine basteln, Drehbank, Fräsmaschinen und Werkzeuge benutzen. Überhaupt war die Unterstützung von der MTU toll. Die elektronischen Bauteile haben wir zum großen Teil über die Berufsschule bezogen.«

Welche Pläne existieren für das fertige Gerät? Wird Orgelbauer Raffin das System kaufen und damit die Top-Hits der Saison für den Leierkasten anbieten, jetzt, da doch alles viel schneller geht?

Bei diesem Gedanken müssen die beiden lachen, schütteln aber gleich den Kopf. Frank meint: »Wir haben einmal ausgerechnet, die komplette Anlage müßten wir für über 30000 Mark verkaufen, wollten wir die Arbeitszeit, Materialkosten, den Computer und alles andere berechnen. Unsere Stanze ist ein Einzelstück und kein Seriengerät. Das wäre für einen Zwei- bis Drei-Mannbetrieb schon eine Rieseninvestition.« Und schließlich fügt Ronald noch hinzu: »Auch ein Museum für ’automatische Musikinstrumente’ hat schon Interesse angemeldet. Aber eigentlich möchten wir das System gar nicht hergeben. An so einer Sache, da hängt man doch mit ganzem Herzen.« (mr)


Matthias Rosin
Aus: ST-Magazin 11 / 1988, Seite 162

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