1st Card: Das unendliche Labyrinth

Seit Jahrzehnten versuchen unzählige Entwickler, den intelligenten Computer aus der Taufe zu heben. Jetzt verspricht »1st Card« Gehirnschmalz für den Atari ST. Endlich eine Denkmaschine?

In den fünfziger Jahren gab es eine ganze Reihe Wissenschaftler, die allen Ernstes behaupteten, schon in absehbarer Zeit einen intelligenten Computer erschaffen zu können. Von diesem Optimismus getragen, erfanden sie für das imaginäre Gerät den Begriff der Künstlichen Intelligenz (KI). Und das ist wohl der mißverständlichste Ausdruck, dem man überhaupt im Computer-Umfeld begegnen kann. Verspricht er doch eine »schlaue« und selbständig denkende Maschine...

KI — ein Begriff, den man am besten mit größter Vorsicht genießt.

So verwundert es kaum, daß der ST auch mit 1st Card kein echtes Eigenleben entwickelt — wer glaubt, mit seinem mausgrauen Plastikkasten in Kürze philosophische Dispute austragen zu können oder Lebenshilfe beim Anbaggern der hübschen Kollegin zu erhalten, wird unweigerlich baden gehen.

1st Card ist nicht mehr als eine Kombination aus einer einfachen Datenbank und einem kleinen Expertensystem. Zum Lieferumfang gehören zwei Disketten und ein Handbuch in Form eines Loseblatt-Ordners. Der ist übersichtlich aufgebaut, ansprechend illustriert und führt den Anwender systematisch durch das Programm. Leider vermißt man ein Stichwortverzeichnis — das könnte viel unnötige Sucherei vermeiden.

Wer keine Festplatte besitzt, kann durchaus mit 1st Card arbeiten. Das Programm weist den Benutzer sogar darauf hin, wann er seine Disketten wechseln muß. Trotzdem arbeitet es sich viel leichter mit Hard-Disks. Wer größere Datenmengen bearbeiten will, ist mit einzelnen Disketten schnell am Ende seiner Geduld, denn das Pro gramm führt zahlreiche Massenspeicherzugriffe durch. Ähnlich verhält es sich mit dem Arbeitsspeicher: Mit einem MByte RAM lassen sich kleinere Anwendungen zwar ohne weiteres abwickeln. Wer aber in die Vollen gehen und beispielsweise die 13-MByte-Bibelversion von Logilex bearbeiten möchte, der sollte sich nicht nur auf die Hard-Disk, sondern auch auf mindestens 2 MByte RAM verlassen können. 1st Card kontrolliert man komplett über die Maus.

Die erste Geige bei 1st Card spielt natürlich das Datenbankmodul. Diese Datenbank ist höchst einfach organisiert: Sie besteht aus einzelnen »Karteikarten«, also Datenmasken, deren Gestaltung dem Benutzer weitgehend freigestellt ist. Das gesamte Fachwissen, das vermittelt werden soll, verteilt sich auf diese Karten. Bei neuen Anwendungen geht man folgendermaßen vor: Zuerst meldet man die neue Datei an. 1st Card stellt dann sofort eine leere Maske zur Verfügung. Mit einem Editor schreibt man einen beliebigen Informationstext in die Maske. Dabei gibt es keinerlei Regeln zu beachten, der Anwender kann die gesamte Karte nach eigenem Belieben gestalten. Der Editor lehnt sich an Ist Word an, beherrscht aber weniger Funktionen zur Textgestaltung. Zur Gestaltung einer Karte gehört auch, daß sich beliebige Grafiken und sogar ganze Animationssequenzen in eine Karte einbinden lassen. Allerdings lassen sich außer dem IMG- bzw. IM?-Format keinerlei Grafikformate laden. Vor dem Abspeichern erhält jede Karte einen Namen. Der wird später wichtig, wenn die Informationen wieder abgerufen werden sollen. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten: Die erste und primitivste besteht im simplen Anklicken oder Direkteingabe des Kartennamens im Gesamtverzeichnis. Das funktioniert sogar mit einzelnen Wörtern, die irgendwo im Maskentext stehen.

Die einzelnen Karten lassen sich untereinander logisch verknüpfen, aus vielen einzelnen Karten entsteht dadurch ein Hypertextsystem. Das geschieht, indem man einzelne Stichwörter im Text einer Karte als »Buttons« markiert. Hinter jedem Button verbergen sich Verknüpfungen zu weiteren Karten. Bis zu 20 Buttons pro Karte lassen sich weiterverknüpfen (warum eigentlich nicht beliebig viele?). Ein Button am Namen eines Buchautors könnte man beispielsweise mit einem biographischen Text zur Person des Autors verknüpfen, sein Geburtsjahr mit den entsprechenden Geschichtsdaten und so fort.

Dieses Datenbankprinzip hat neben seiner großen Flexibilität den Vorteil, daß man den Umgang damit schnell erlernt.

So weit, so gut. Dieses Kartenprinzip zeigt im praktischen Einsatz aber gewaltige Nachteile. Beispiel: Aus einer Bibliographie oder einem Literaturverzeichnis sollen alle Autoren in einer Täbelle zusammengefaßt werden, zu jeder Person ein kurzer Lebenslauf. Fehlanzeige: Zwar lassen sich die entsprechenden Karten aufspüren aber immer nur komplett ausgeben — gleichgültig ob auf Bildschirm oder Monitor. Gezieltes Auswählen von Informationen aus einer Karte ist nicht möglich, es sei denn, man löscht alles, was man nicht benötigt, von der Karte.

Doch 1st Card möchte ja mehr sein als eine Datenbank — es wagt sich in den Bereich KI/Expertensysteme. Kurz wiederholt: Ein Expertensystem stellt umfangreiches Fachwissen zur Verfügung, das logisch organisiert ist. Die erste Karte formuliert das Problem und stellt eine Frage, auf die zwei oder mehr Antworten möglich sind. Je nachdem, wie die Antwort ausfällt, erscheint die nächste Karte, die wieder Fragen stellt. Das geht so lange, bis das Problem durch Fragen eingekreist ist. Die Antwort führt zur letzten Karte im System, die nicht mehr weiterverknüpft ist. Beispiel: Auf die Frage, ob der Motor des Wagens nicht anspringt, kann man mit »ja« oder »nein« antworten. Je nachdem, wie die Antwort ausfällt, verweist ein Pfeil auf das nächste Feld.

Die erste Karte der Analyse: Jede der beiden möglichen Antworten führt zu einem anderen Lösungsweg

Dort fragt 1st Card, ob man den Fehler in der Zündelektronik oder in der Kraftstoffzufuhr vermutet. Vermutet man ihn in der Kraftstoffzufuhr, wird man wieder auf ein Feld verwiesen, das fragt, ob noch Benzin da ist und so fort. Am Ende dieses Fragebaums sind dann schließlich alle Möglichkeiten bis auf eine ausgeräumt, und das ist der gesuchte Fehler.

Die Grundlage für den Aufbau eines solchen Expertensystems bildet wieder die Datenbank mit ihren einzelnen Karten. Die eben beschriebenen Antworten »ja« und »nein« werden dabei mit Buttons markiert und führen so zur nächsten Karte. Dadurch lassen sich mit 1st Card ohne Programmierkenntnisse kleine Expertensysteme erstellen. Leider gibt es keinerlei Möglichkeiten, einen grafischen Strukturüberblick bzw. Querverweistabellen zu erstellen. Dadurch verliert man sehr leicht den Überblick.

Für 1st Card liegen bereits eine Reihe an Anwendungen vor, die zum größten Teil Public Domain sind. Es handelt sich dabei vor allem um Rechtsauskunftssysteme, die bei einfachen Fragestellungen schnell weiterhelfen.

Ob sich allerdings mit 1st Card auch sehr komplexes Wissen schnell und unproblematisch vermitteln läßt, darf stark angezweifelt werden. Probleme ergeben sich z. B. sofort, wenn zu einem sehr speziellen Punkt zwei zusammenhängende Fragen auftauchen. Der Anwender muß sich erst zur Antwort der ersten Frage durchhangeln und dann nochmals von vorne beginnen. Dabei hat er keinerlei Möglichkeit, sich im »Entscheidungsbaum« zu orientieren. Auch gezieltes Extrahieren einzelner Textausschnitte ist problematisch.

1st Card eignet sich also in erster Linie für relativ einfache Zusammenhänge, die immer wieder ähnlich abgefragt werden. Typische Einsatzgebiete: Als Wegweiser in Ämtern (z. B. Arbeitsamt), in der öffentlichen Information (vor allem juristische), Arztpraxen, im Kaufhaus usw.

Welchem Privatanwender kann man 1st Card nun empfehlen? Wer hauptsächlich eine intelligente Datenbank zur Verwaltung von Texten sucht, ist mit »Easybase« von Omikron sicherlich besser bedient. Wer dagegen in die Arbeitsweise von Expertensystemen hineinschnuppern möchte und über keinerlei Programmierkenntnisse verfügt, kann mit 1st Card die ersten Schritte schnell und einfach gehen. Dank Handbuch, einfacher Benutzerführung und Hilfsfunktionen ist das überhaupt kein Problem. Eins ist jedoch klar: Ein Expertensystem, das sich nicht programmieren läßt, das nicht aus Fehlern lernen kann, und das Einschränkungen beim Verknüpfen von Informationen besitzt, kann dem großen Vorbild »HyperCard« (ein Mac-Programm) in keiner Weise das Wasser reichen.

(hu)

Der Anwender hangelt sich von Frage zu Frage und kreist dadurch das Problem systematisch ein

1st Card

Vertrieb: Logilex
Preis: 298 Mark

Stärken: gutes Handbuch, leicht zu bedienen und erlernen, einfacher Einstieg in Expertensysteme möglich

Schwächen: nicht programmierbar, Masken nur komplett abrufbar, nur 20 Verknüpfungen pro Maske möglich, kein Strukturuberblick, wenig Grafikformate

Fazit: Für KI-Einsteiger empfehlenswert, weniger geeignet für komplexe KI- und Expertensystem-Anwendungen

Logilex, Gerhard Oppenhorst, Eifelstr. 32, 5300 Bonn 1


Stefan Laurin
Aus: ST-Magazin 11 / 1990, Seite 40

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