Neodesk: Des Kaisers neue Kleider (Folge 2)

In der ersten Folge zu »Neodesk« haben wir uns mit der Installation und dem Handbuch beschäftigt. Der zweite Teil unseres Tests widmet sich diesmal den Unterschieden zum »alten« Desktop.

Genauso wie Gemini zeichnet sich Neodesk vor allem durch seine reiche Palette an Icons aus, die man einzelnen Dateien zuordnen kann. Außerdem lassen sich in der neuesten Version sieben Fenster gleichzeitig öffnen und übereinanderlegen. Dabei zählen allerdings eventuell geöffnete Accessories mit. Auch die Neodesk-Fenster verdienen besondere Beachtung. Auf den ersten Blick unterscheiden sie sich kaum von den GEM-Fenstern. Doch ihr Pep liegt im Detail. Beispielsweise erzeugt ein Klick auf »x2« im linken oberen Eck eine zweite Ausgabe des betreffenden Fensters — praktisch für Umkopieraktionen innerhalb derselben Laufwerksebene. Gegenüber auf der rechten Seite legt ein Mausklick auf das Gänsefüßchen das betreffende Fenster in den Hintergrund. Und da, wo einst der horizontale Scroll-Balken sein Dasein unter GEM fristete, findet sich nun der Name der Diskette bzw. Partition. Ein Verschieben des Fensterinhalts in horizontaler Richtung ist nicht mehr erforderlich, denn Neodesk sorgt für optimale Ausnutzung des verfügbaren Raums und setzt — soweit möglich — auch zweispaltige Inhaltslisten in die Fensterfläche.

Wie es Euch gefällt: Neodesk bietet eine reiche Palette an putzigen Icons für alle Dateitypen

Darüber hinaus läßt sich jedes Fenster individuell mit Text oder Symbolen ausstatten. Auch ein Icon für »Alles anwählen« oder ».« für umfassende Kopier- oder Löschoperationen hat wohl schon jeder vergeblich gesucht, vor allem, wenn er aus dem DOS-Bereich kam - mit Neodesk auch kein Problem mehr. Ein weiteres Bonbon: Mit dem »Schieber« kann man ein Fenster horizontal verdoppeln. Auch bequemes Wechseln von Suchpfaden ist mit Neodesk keine Hexerei mehr: Mußte man sich unter GEM noch durch alle Fenster und Pfade zurück ins Haupt-Directory durchklicken, reduziert sich die Mühe jetzt auf das Anklicken des gewünschten Pfadteils in der Infozeile.

Warum kann man auf dem Desktop eigentlich nicht schreiben? Diese Frage stellte sich Dan Wilga wohl auch, als er folgende raffinierte Funktion in den Neodesk einbaute: Durch Doppelklick auf einem freien Plätzchen des Desktops aktiviert man einen Minieditor, mit dem sich eine Eingabezeile auf den Bildschirm setzen läßt. Die Bildschirmnotizen dürfen maximal 1024 Byte lang sein — eine pfiffige Sache, diese Schreibfunktion. Einziger Wunsch: Die Schrift könnte einige Pünktchen größer sein. Die Drop-Down-Menüs des Neodesk enthalten deutlich mehr Angebote als die entsprechenden »Speisenkarten« des GEM.

Ganz ohne Macken geht’s jedoch auch bei Neodesk nicht: Die Anzeige des freien Arbeitsspeichers beispielsweise hat das Programm nicht richtig im Griff. So hatte ein aufgerüsteter 520 ST plötzlich über 2,6 MByte RAM statt etwas über 2,5 MByte. Trotzdem überwiegen die weitreichenden Fähigkeiten des Neodesk bei weitem seine kleinen Mängel. Um nur einige Leistungsdaten zu nennen: weitreichende Möglichkeiten zur Tastatursteuerung, frei verschiebbare Dialogboxen, eine Makrofunktion — der neue Schreibtisch erweist sich als leistungsfähiges und komfortables Werkzeug. Und für diejenigen, die Icons und Bildchen sowieso hassen und am liebsten noch mit Grünmonitor, abstraktem Befehlskauderwelsch und Unix werkeln würden: Mit »Climax« bietet die neue Oberfläche auch einen »Command Line Interpreter«, eine Umgebung zur direkten Befehlseingabe wie unter MS-DOS oder z.B. die »Mupfel« der Gemini-Shell. Allerdings wäre es verfehlt, Climax als unverbesserlichen Rückfall ins Tastaturzeitalter zu klassifizieren: Der Interpreter besitzt ein paar Möglichkeiten mehr als DOS. Auch komplexe Systemfunktionen lassen sich damit realisieren. Durch die Einbindung in Neodesk greift das Programm auf viele Funktionen aus dem Neodesk-Code zurück, was den Speicherbedarf in erträglichen Grenzen hält.

Zu Climax gibt es ein eigenes 70seitiges Handbuch.

Viele Speisen auf der Karte: Die Menüs des Neodesk sind wesentlich reichhaltiger als die unter GEM

Doch damit nicht genug: Mittlerweile bietet »Computerware Gerd Sender« fünf Disketten mit zusätzlichen Erweiterungen zu Neodesk an. Auf diesen »Neotools«-Disketten finden sich sowohl von der Shell unabhängige PD-Utilities als auch speziell auf Neodesk zugeschnittene Hilfsprogramme. Unter anderem stellen sie verschiedene Ausgaben von ARC-Program-men (Datenkomprimierung) zur Verfügung, dazu einen Software-Packer für lauffähige Dateien oder Schreibschutz- und Hardcopy-Hilfen. Man findet zusätzliche Icons, die sich mit dem in Neodesk integrierten Symboleditor übernehmen oder nach eigenem Bedarf modifizieren lassen, sowie ein Installations- und Steuerprogramm, das für jede bootfähige Partition einer Festplatte eine besondere Neodesk-Version erzeugen und aktivieren kann. Die fünfte der Neotool-Disketten enthält verschiedene Shareware-Angebote. Mit dem »Locator« stöbert man auch im dicksten Ordner- und Partitionsgewühl die gesuchte Datei auf, vorausgesetzt man erinnert sich an ihren Namen. Der »Deleter« läßt nach Vorgabe einer Suchmaske alle passenden Dateien verschwinden — Löschaktion im großen Stil. Schließlich sei noch »Crypt« genannt, das eine problemlose Ver- und Entschlüsselung von Dateien durchführt.

Kurz gesagt: Neodesk zusammen mit CLImax und den Neotools ergibt eine anpassungsfähige und leistungsstarke Kombination. Dabei halten sich die Preise für die einzelnen Module in erfreulich akzeptablen Grenzen. Wer über genügend Arbeitsspeicher verfügt, und vielleicht noch eine Festplatte besitzt, der sollte sich unbedingt mit Neodesk befassen — es lohnt sich, (hu)

Neodesk/Neotools

Hersteller: Dan Wilga

Vertrieb: Computerware G. Sender, Köln

Preis: 98 Mark Sharegebühr

Stärken: komfortable Ausstattung, sinnvolle, durchdachte Erweiterungen, weitestgehend anpaßbar, überschaubar

Schwächen: schlechtes Handbuch, sehr unkomfortable Installation

Fazit: empfehlenswertes Universal-Utility für STs mit Harddisk und/oder mehr als 1 MByte RAM

Computerware Gerd Sender, Weißer Str. 76, 5000 Köln 50

Auf einen Blick: Die GEM-Entwickler könnten sich ein Scheibchen abschneiden...

Ulrich Hilgefort
Aus: ST-Magazin 12 / 1990, Seite 54

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