Oxyd: Ideenklau bei Klassikern

Oxyd hat etwas von allen guten Kniffelspielen, die bisher auf dem Markt sind, in sich vereint

Nach den Spielen »Bolo« und »Esprit«, die sich in die Klassikerhitlisten hochgespielt haben, kommt nun ein neues kniffliges Spiel: Auch »Oxyd«, startet als Public-Domain-Software- und ist nach unserer Meinung ein ganz heißer Anwärter auf den Olymp.

Was konnte das wohl sein, das »Dongleware-Prinzip«, ein Vertriebssystem, das eine Software einerseits Public Domain sein läßt und dann auch wieder nicht? Geht das überhaupt?

Natürlich geht’s: Man schreibt ein Programm, ein gutes selbstverständlich, verzichtet auf Kopierschutz und aufwendige Verpackung. Anschließend definiert man es als PD-Programm, informiert also darüber, daß es frei kopierbar ist und stellt es den diversen PD-Serien (ST-Computer, PD-Pool) zur Verfügung. Was sich dann lawinenartig verbreitet, ist nicht etwa eine schlichte Demo oder ein abgespeckter Abklatsch der Vollversion, sondern das Originalprogramm !

Die kommerzielle Seite gestaltet sich wie folgt: Die Leute spielen das Programm und finden es hervorragend. Doch mitten im elften Level ist plötzlich Schluß der Vorstellung. Nicht etwa, daß das Spiel abstürzt oder abbricht, nein, ein kleiner Stein liegt plötzlich im Wege, und es führt kein Weg daran vorbei. Was sind denn das für Zahlen, die auf diesem Stein stehen? Ein Blick in die »Dongleware«-Information gibt Aufschluß - es wird ein Code verlangt, sonst verschwindet dieser kleine Stein nie.

Ab dem elften Level liegen übrigens immer mal wieder solche Findlinge in der Gegend herum, die durch Codeeingabe beseitigt werden.

Das Buch mit den Codes

Wo findet man diese Codes? Man ist süchtig, braucht sie unbedingt, denn das Spiel hat einen gepackt und läßt nicht mehr los. Möchte man weiterspielen, muß ein Buch her, in dem diese Codes stehen, und das gibt’s nur zu kaufen. Das stellt also den Kopierschutz dar, mit seinem Erwerb erhält man die Befähigung und gleichzeitig die Lizenz, das Programm zu nutzen.

Oxyd ist der Nachfolger von Bolo und Esprit, zwei Spielen, die wohl nur zu gut bekannt sind und die bereits in der Vergangenheit gezeigt haben, zu welchen Programmierleistungen die Autoren fähig sind. Und das »Oxyd-Buch« ist eben das unerläßliche Buch zum Spiel.

Erhältlich ist es, wo man auch das Spiel selbst bekommt oder direkt beim Hersteller. Darin stehen nicht nur die benötigten Codes, sondern auch noch zahlreiche Tips und einige Karten zum Spiel, die einem das (Über-) Leben in einigen Levels sehr erleichtern.

Nachdem nun die Hintergründe bekannt sind, bleibt noch die Frage, worum es bei Oxyd geht. Die Story ist schnell Umrissen. Sie spielt in der Welt der Bits und Bytes des Atari ST. Man steuert per Maus eine kleine schwarze Glaskugel. Sie hat die Aufgabe, diese Welt zu retten. Retten muß man sie, weil sich die mysteriösen Oxyd-Steine, die überall in dieser Welt verstreut sind, über Nacht zusammengeschlossen haben und der Welt den lebenswichtigen Sauerstoff vorenthalten. Dieser Steinepanzer muß durch Berührung mit der Kugel wieder geöffnet werden. Ähnlich dem Memory-Spielprinzip tragen diese Steine verschiedene Muster, die sich nach der Berührung offenbaren. Je zwei der Steine tragen das gleiche Muster und bleiben nur dann geöffnet, wenn man sie hintereinander berührt. Die Oxyd-Steine sind oft weit verstreut und nur nach einiger Überlegung zugängig. Neben den Oxyd-Steinen existieren noch über 150 andere Steinarten, mehr als 100 verschiedene Objekte und etwa 90 unterschiedliche Bodenplattentypen, die allesamt unterschiedliche, unbekannte Funktionen, Fähigkeiten und Wirkungen haben.

Jedes Level verbirgt neue Gags, die einem mitunter ganz gewaltig unter die Haut gehen können

Spannung bis zuletzt

Außerdem herrschen in den Levels unzählbar viele verschiedene physikalische Gesetzmäßigkeiten, wie z.B. verwirrte Maussteuerung, Gravitation, Schwerelosigkeit, magnetische Anziehungskräfte usw. All diese mannigfaltigen Faktoren stehen untereinander in manchmal logischem, manchmal nur durch Ausprobieren zu erkundendem Zusammenhang. Ist es gelungen, im jeweiligen Bild alle Oxyd-Steine zu öffnen, was im übrigen mit hervorragend gesampleten Luftströmen symbolisiert wird, gelangt man in den nächstfolgenden Level des Spiels. Das Spiel hat, je nach Spielmodus, entweder zehn (ohne Oxyd-Buch), 100 (im Einspielermodus) oder sogar 200 (im Zweispielermodus) verschiedene spielbare Level. Im Zweispielermodus muß man allerdings zwei Rechner über die MIDI-Anschlüsse miteinander koppeln. Etwas umständlich sicherlich, aber dafür erwarten einem weitere knifflige Aufgaben, die gemeinsam (mit einer schwarzen und einer weißen Kugel) bestehen muß. Sollte man während der Arbeitszeit spielen und dabei lästigerweise von seinem Vorgesetzten überrascht werden, hilft ein beherzter Druck auf die »Bic«-Taste. »Bic« - boss is coming - blendet sofort ein tarnendes Textverarbeitungsbild ein. Ein recht nützliches Ausstattungsmerkmal.

Was bietet die technische Seite des Programms noch? Einen tollen, mit einer Frequenz von 20 kHz gesampleten, Titelsound auf sechs Kanälen, mit 6,5 kHz gesamplete Sound-FX, eine Echtzeit-MIDI-Auswertung, eine Gesamtspielfläche von etwa 150 Millionen Pixel, Landschaften von einer Größe bis zu 18 Bildschirmen, eine Bildfrequenz von 72 Hz auf dem ST (Monochrome Auflösung), 160 KByte Ton- und 125 KByte Bilddaten. Das ganze wurde mit Megamax Modula-2 entwickelt.

Man wird ganz schön gefordert

Für wen ist dieses Spiel programmiert? Die Antwort fällt nicht schwer, all jene, die schon immer von Labyrinth, Puzzle- und Geschicklichkeitsspielen begeistert waren. Oxyd vereint von allen Klassikern etwas, und zwar die jeweils herausragenden Eigenschaften. Es kombiniert diese gelungen und setzt dem ganzen noch die Krone auf. Mit anderen Worten, die Aufgaben im Spiel sind u.a. sich die Musterpaare zu merken, mit Verschieben und Drehen von Spiegeln Laserstrahlen zu dirigieren. Kisten müssen auf markierte Felder verschoben, Hindernisse in der richtigen Reihenfolge und mit Bedacht in die Luft gesprengt werden. Von Gravitation und Magnetismus behindert, muß man Kugeln herumzustoßen, durch Labyrinthe kreuchen, puzzlen, knobeln und darf nicht die Nerven verlieren, wenn um einen ringsherum der Boden unter der Kugel zusammenbricht.

Die unterschiedliche Farbgebung der Felder bietet ein wenig Orientierungshilfe

Am Anfang stehen einem zunächst drei Kugeln zur Verfügung, um das Spiel zu lösen. Gefahr droht diesen u.a von Abgründen, explodierenden Bomben, feindlichen Sprites, Sümpfen, Fallen usw. Kommt man einmal in die Situation, ein Bild nicht mehr beenden zu können, sei es, weil man die zur Lösung der Aufgaben zu verwendenden Elemente falsch disponiert hat oder weil man mit seiner Kugel in eine ausweglose Falle geraten ist, hilft nur noch ein Neubeginn des entsprechenden Bildes unter Verlust der Aktionskugel. Sind alle Murmeln aufgebraucht ist das Spiel zu Ende. Um die Motivation hoch zu halten, muß man dann aber nicht von vorne anfangen und alle Levels noch einmal spielen, sondern man kann per direkter Levelanwahl (hin und wieder findet man die dazu benötigten Levelcodes) in eines der zuletzt erreichten Bilder neu einsteigen. Jeweils alle zehn Levels gelangt man in einen sog. Meditationslevel, eine Art Bonusstufe. Denn hier kann einem nichts Übles wiederfahren, außer daß man sehr lange braucht, um weiterzukommen. Man dirigiert in diesen Bildern nämlich vier kleine Kügelchen zugleich und muß diese in vier verschiedene Ziele bringen.

Tückisch dabei ist, daß jede dieser Kugeln sich anfangs in einem anderen Bildschirmbereich befindet und man dadurch manchmal mit vier verschiedenen Steuerungen und Anziehungskräften zu kämpfen hat. Bestimmt eine revolutionäre Idee.

Das alles und vieles mehr bietet Oxyd bei sehr guter Grafik und hundertprozentiger Maussteuerung, die annähernd ruckelfrei ist. (mb)

Oxyd ist erhältlich auf der PD-Pool-Diskette 2153 und auf der ST-Computer Disk 360. Das Oxyd-Buch kostet ca. 50 Mark und ist dort zu beziehen, wo es auch das Spiel gibt.


Andreas Vogelmann
Aus: ST-Magazin 03 / 1991, Seite 136

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