Editorial: Schöne neue Bilderwelt!

Noch gehört das Daguerreotyp* nicht zu den Apparaten der Schuljugend, noch ist seine Anwendung nicht so populär, daß Damen damit ihre Strickmuster kopieren, resümiert Fotografiepionier August Le-wald vor rund 150 Jahren. Über die Stadien »Geheimwissenschaft« und »hohe Kunst« hat die technische Evolution Rudel von »Alles-was-sich-bewegt-Knipsografen« ermöglicht, die alles und jeden auf Zelluloid bannen.

Inzwischen hat die Fotografie auch den Sprung in den elektronischen Rechenknecht geschafft: der Künstler legt neugierig Palette und Pinsel beiseite und schafft mit Maus, Scanner und Workstation eine neue Kunstrichtung. Filme wie »Krieg der Sterne«, »Aliens« oder »Terminator« werden durch trickreiche Kombination von klassischer Aufnahmetechnik und raffinierter Computeranimation zum visuellen Hochgenuß.

Schon geistert das Schlagwort vom Multimedia-Computer auch für den heimischen Rechner durch die Fachpresse: Bild und Ton fürs Wohnzimmer in Kinoqualität. Zwar hapert es derweil noch ein wenig an Auflösung und Farbenfreude — vor allem beim Drucken — aber die Preise purzeln bei wachsenden Möglichkeiten. — Friede, Freude, Eierkuchen also?

Doch einmal weitergedacht: Die Informationsverbreitung verlagert sich immer mehr von der textlichen Darstellung auf eine bildhafte. Eine Tageszeitung ganz ohne Bilder? Fotos, Diagramme und Comics erobern die Seiten. Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte! Was wir sehen, glauben wir. Doch wenn man schon daheim passable Fotomontagen in Zeitungsqualität erreicht, muß man künftig bei »Beweisfotos« skeptisch sein: Im Science-fiction-Film, wo Unmögliches möglich wird, beeindrucken die Fähigkeiten. Und beim geschönten Zeitungsfoto? Es fängt damit an, daß der Kontrast des regnerischen Tages korrigiert wird. Der Depp, der ins Bild gelatscht ist, wird wegretuschiert. Oder ein verpennter Termin wird übers Archiv einfach »nachgebaut«. Und das alles mit einer Perfektion, die keine Spuren hinterläßt. Wirklichkeit und Fiktion sind nicht mehr zu unterscheiden. Können wir unseren Augen noch trauen? Wo ist die Grenze?

Das ist eben die Kehrseite der Medaille. Die neuen Möglichkeiten sind faszinierend und erschreckend zugleich. Einerseits bieten sich interessante Perspektiven für Kreativität und Forschung, andererseits wird der Manipulation im negativen Sinne Tür und Tor geöffnet: Die digitale Kamera wäre zur schnellen Dokumentation für Versicherungen u.a. ideal geeignet, doch wie verhindert man, daß der Kratzer im Lack oder die feuchten Wände nicht nachträglich etwas verstärkt bzw. abgeschwächt werden? Wie läßt sich ein elektronisch gespeichertes Bild gegen Veränderung schützen? Leichtgläubigkeit wird mit Nachhilfe in EBV nicht unter drei Lektionen bestraft.

Wie Sie eigene Erfahrungen — und entsprechende Sensibilität — auf dem ST sammeln können, zeigt unser Bildverarbeitungsschwerpunkt.

*) fotografisches Verfahren mit Metallplatten

Ihr

Thorsten Luhm


Thorsten Luhm
Aus: ST-Magazin 01 / 1993, Seite 3

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