EVS: Zahlen zum Anlassen

In vielen Fällen entwickeln sich aus einer Unsumme verschiedener Meßwerte erst dann vernünftige Ergebnisse, wenn geeignete Methoden zur Visualisierung eingesetzt werden. »EVS« bietet sie.

Einfaches Netzwerk zum Zeichnen von Lissajous-Figuren

Stellen Sie sich eine Wetterstation vor, die in regelmäßigen Abständen Messungen von Temperatur, Luftdruck, Luftfeuchtigkeit sowie die Niederschlagsmengen erfaßt und die Ergebnisse auf Diskette speichert (z. B. über einen Einplatinencomputer). Nach einigen Tagen, Wochen und Monaten hat sich eine Menge ebenso umfangreiches wie unüberschaubares Zahlenmaterial gesammelt, dessen Auswertung zwar sehr interessante Aufschlüsse verspricht, die aber ohne Aufbereitung nur sehr mühsam interpretiert werden können.

In Tausenden von Jahren menschlicher Evolution war das Gehirn nie gezwungen, völlig abstrakte Werte zu verarbeiten, Sinnesorgane leisteten stets die nötige Vorarbeit. So wundert es nicht, daß grafisch aufbereitetes Zahlenmaterial unter Umständen sogar von Laien auf Anhieb interpretiert werden kann, während endlose Zahlenlisten meist nur verwirrtes Kopfschütteln hervorrufen. Besonders schwierig wird es, wenn es um zusammenhängende Interpretation von Meßdaten geht, also die Feststellung von Beziehungen unter den unabhängig voneinander ermittelten Meßgrößen. Im konkreten Wetterbeispiel könnte sich z. B. die Frage stellen, ob sich aus den Schwankungen von Luftdruckdaten und Niederschlagsmengen Zusammenhänge herauslesen lassen: Regnet es bei niedrigem Luftdruck öfter als bei hohem? Natürlich läßt sich diese Frage aus der Erfahrung heraus auch ohne Meßdaten beantworten. Wie aber, wenn jahreszeitabhängig nach den Zusammenhängen zwischen Temperatur und Niederschlag gefragt ist? Um etwaige Zusammenhänge der einzelnen Werte untereinander feststellen zu können, wäre es natürlich ohne weiteres möglich, alle Meßdaten auf eine X-, Y- und Z-Achse aufzutragen und grafisch darzustellen. Auf Papier wäre die Interpretation aber wiederum schwierig, da nun das dreidimensionale Vorstellungsvermögen gefragt wäre. Manche Meßwerte wären u. U. gar nicht sichtbar. Würde man die Werte auf jeweils zwei Achsen darstellen, also X und Y, Y und Z oder X und Z, könnten durch die Zweidimensionalität Zusammenhänge übersehen werden.

Langer Rede kurzer Sinn: Es muß eine Möglichkeit geben, die ganze Geschichte im Computer darzustellen, drehbar, in einem imaginären Raum.

Üblicherweise beginnt nun die Arbeit mit dem Basic-Interpreter (falls sich der Bediener nicht bereits mit den grafischen Möglichkeiten eines Busineßgrafikprogramms zufriedengibt). Zum Experimentieren ist Basic ja immer noch ungeschlagen (wenn man hauptsächlich mit numerischen Daten arbeitet).

Zuerst werden die Felder dimensioniert (aber wie groß?). Dann geht es an die Einleseschleife für die Daten (wie ging das noch gleich?). Schließlich werden die Daten verarbeitet, dann kommt die Fourier-Transformation (War da nicht irgendwo noch eine alte Routine zu diesem Thema?). Leider stimmt das Datenformat nicht, und die Variablennamen passen auch nicht. Schließlich die grafische Darstellung (die Routine muß doch auch irgendwo herumfliegen!)...

Immer wieder ähnliche Probleme, immer wieder die gleichen Module zur Lösung, sie werden lediglich anders zusammengesetzt: Die Aufgaben bei der grafischen Auswertung statistischer Werte schreien geradezu nach einer standardisierten objektorientierten Lösung. Ein Einlesemodul verschickt die Meßwerte an ein Modul zur Fourier-Transformation, dieses reicht die Ergebnisse an ein Grafikmodul und das wiederum stellt das Endresultat auf dem Bildschirm dar. Anschließend geht man noch einen Schritt weiter und programmiert solche Anwendungen gar nicht mehr fix und fertig, sondern setzt die Module wie in einem Baukasten je nach Bedarf auf dem Monitor grafisch orientiert zusammen und verbindet sie durch Linien, an denen dann die umgearbeiteten Daten entlangfließen. Statt mehrere Stunden für die Basic-Lösung des beschriebenen Problems zu verlieren, ist das Ganze bereits in fünf Minuten erledigt.

Mit dem »EVS«, dem »Extended Visualization System« des Physikers Dr. Reinhard Eibl, lassen sich genau solche Aufgaben exzellent lösen. In einem Arbeitsfenster stellt man die benötigten Module zur Eingabe (Input), Verarbeitung (Mapper) und Ausgabe (Render) zusammen, »verdrahtet« sie wie einen elektrischen Schaltkreis, stellt diverse Parameter der einzelnen Module ein und »startet« diese Verkettung von Modulen, die Eibl »Netzwerk« nennt. Das Ergebnis der Berechnungen läßt sich innerhalb kürzester Zeit auf dem Monitor darstellen.

Histogramme zur Datenauswertung

Um die Anwendungsmöglichkeiten des Programms etwas anschaulicher zu gestalten, soll als kleines Beispiel ein Netzwerk zum Zeichnen von Lissajous-Figuren entstehen, an denen sich fast jeder Programmierer schon einmal versucht haben dürfte.

Zunächst müssen die Sinussignale für x- und y-Koordinate bereitgestellt werden. Es genügt, zwei Sinusoszillatoren in das Arbeitsfenster zu ziehen. Jetzt fehlt nur noch ein XY-Schreiber, der mit den beiden Sinusgeneratoren verdrahtet wird. Das Arbeitsprinzip entspricht dem Vorgehen auf einem Analogrechner. Der XY-Schreiber präsentiert die Werte im zweidimensionalen Koordinatensystem (s. Abb.) und fertig ist das Ergebnis.

Natürlich ist klar, daß die Leistungsfähigkeit eines solchen Programms nicht zuletzt nach Anzahl und Art (Komplexität) der bereitgestellten Module zu beurteilen ist. Hier schneidet das EVS wirklich ausgezeichnet ab. Eine auszugsweise Übersicht: Rampen-, Zufalls-, Sinus-, Dreiecks- und Rechtecksgeneratoren, sowie Einlesemodule, alle mathematischen Standardfunktionen, Tief- und Hochpässe, Fourier-Transformationen, Auto- und Kreuzkorrelationen, Umwandlung von kartesischen und Polarkoordinaten ineinander, Normierungen usw.

Auch die Ausgabemodule können sich sehen lassen:

Statistiken, Histogramme, XY-Plots, 3-D-Grafiken und vieles mehr. Natürlich kann man die Ergebnisse auch in profaner Listenform begutachten oder in eine Datei ausgeben.

Wer regelmäßig Meßergebnisse auswerten und interpretieren muß, der dürfte schon jetzt restlos begeistert sei. Wem es noch etwas schwerfällt, sich den praktischen Nutzen eines solchen Programms vor Augen zu führen, dem präsentieren wir einfach eine etwas aufwendigere Beispielanwendung. Sie gehört als Einarbeitungsmodell mit zum Programm und demonstriert die Leistungsfähigkeit des EVS: Die Auswertung von Wetterdaten, ähnlich dem Beispiel am Anfang des Beitrags.

Mitgeliefert werden Wetterdaten aus Unterfranken vom 1. Januar 1987 bis 31.

Dezember 1989. Aufgezeichnet wurden Temperatur, Luftdruck, Niederschlagsmenge, Windstärke und -richtung sowie einige generelle Informationen über das Wetter. Über ein spezielles Eingabemodul lassen sich aus diesen Daten die gewünschten Werte selektieren. Sie werden durch einen Filter geschickt, der z. B. ermittelt, ob Niederschläge tatsächlich häufiger bei niedrigem Luftdruck auftraten, als bei hohem Luftdruck, dem klassischen Anzeichen für schönes Wetter.

Ein Beispielnetzwerk zur Wetterauswertung zeigt die Abbildung. Die Wetterdaten werden von den »Wet.Inp«-Modulen eingelesen. Das linke Modul ist so konfiguriert, daß es die Temperatur ausgibt, das rechte Modul versorgt das weitere Netzwerk mit den Luftdruckdaten. Da die Wetterdaten in einem speziellen Format vorliegen, werden sie zunächst in reelle Zahlen konvertiert (»Cvt->R8«). Die Temperaturdaten werden dann direkt angezeigt (»Histogs« für Histogramme). Danach werden die Daten etwas geglättet, um allzu kurzzeitige Schwankungen auszublenden. Luftdruck und Temperatur werden nochmals dargestellt.

Nun endlich geht es in die interessanten Filtermodule: »FT f(t)« berechnet die sogenannte Fourier-Transformierte der reellen Funktion fit). Die Fourier-Transformierte enthält, vereinfacht gesagt, Informationen darüber, ob die Eingangsdaten periodische Strukturen aufweisen und wie groß diese Perioden sind. Von einem einfachen Sinussignal kann man das noch selbst ablesen, mischt man jedoch 15 verschiedene Sinussignale, wird das Ergebnis mit bloßem Auge nicht mehr zu analysieren sein. Für die Fourier-Transformation ist das aber kein Problem.

Wie das Ergebnis zeigt, ist der höchste Wert in Histogramm Nr. 6 (s. Abb.), bei einem x-Wert von 3 zu finden. Diese 3 ist so zu deuten, daß ein deutlich periodisches Temperaturverhalten vorliegt, wobei im gesamten Datenumfang drei Perioden vorhanden sind. Schaut man auf die Temperaturrohdaten, so ist dies auch leicht zu erkennen — der Meßzeitraum beträgt drei Jahre!

Die Fourier-Transformation hat aber auch Nachteile für die Meßdatenauswertung: Sie findet z. B. in einem periodischen Rechtecksignal viele Sinusanteile mit Vielfachen dieser Frequenz (was auch völlig korrekt ist). Nur:

Das Beispielnetzwerk zur Wetterdatenerfassung
Auto- und Kreuzkorrelationsfunktion

Mißt man z. B. die Helligkeit von Straßenlaternen und findet ein periodisches Rechteckverhalten (Periode 1 Tag), so ist es ja wohl völlig unsinnig zu behaupten, daß hier z. B. gleichzeitig periodisches Verhalten mit einer Periode von 1/5 Tag vorliegt. Die Fourier-Analyse würde trotzdem behaupten, daß die Lampe nicht täglich einmal an- und abgeschaltet wird, sondern mindestens fünfmal.

Ein anderes Ergebnis liefert die sog. Autokorrelationsfunktion (S. 20). Grob gesagt mißt die Autokorrelationsfunktion, wie sehr der um ein Stück verschobene Funktionsgraph dem ursprünglichen Funktionsgraphen ähnelt. Bei einer periodischen Funktion sieht der verschobene Funktionsgraph der ursprünglichen Funktion natürlich besonders ähnlich, wenn er um eine ganze Periode verschoben wird.

In Histogramm Nr. 5 sieht man dies für das Temperaturverhalten. Die Autokorrelationsfunktion, die hier dargestellt wird, ist natürlich besonders groß bei einer Verschiebung von 0 (x-Achse). Aber dann sieht man, daß die Autokorrelationsfunktion auch dann große Werte annimmt, wenn die Verschiebung ein Vielfaches von 365 Tagen beträgt, was wiederum zeigt, daß der Temperaturverlauf in den einzelnen Jahren ähnlich ist.

Bei der sogenannten Kreuzkorrelationsfunktion hingegen wird der Funktionsgraph einer Funktion mit dem verschobenen Graphen einer anderen Funktion verglichen. Dieses Ergebnis kann zeigen, ob zwischen zwei Funktionen (oder Meßreihen) ein Zusammenhang besteht. Im Beispielnetzwerk wird die Korrelation von Luftdruck und Temperatur im Jahresverlauf untersucht. Es stellt sich heraus, daß die Kreuzkorrelationsfunktion ziemlich nahe 0 verläuft (Kurve 2), was heißt, daß der Jahrestemperaturverlauf nicht mit einem entsprechenden Luftdruckverlauf korreliert.

Beachten muß man, und da schweigt sich die ansonsten ausgezeichnete Online-Hilfe des EVS (auf Tastendruck) leider aus, daß bei einer Meßreihe die Auto- und Kreuzkorrelationsfunktionen mit zunehmender Verschiebung immer weniger Meßwerte berücksichtigen (wie man aus den Formeln ablesen kann). Deshalb wird die Aussagekraft der Kurven mit fortschreitender Verschiebung immer geringer, der Verlauf des Graphen also immer bedeutungsloser. Als Faustregel sollte man also nur die linke Hälfte zur Interpretation verwenden.

Natürlich ließen sich noch vielerlei andere Kapriolen mit den Wetterdaten drehen: Wie hängt z. B. das Wetter von der Windrichtung ab? Treten Schön- und Schlechtwetterperioden vielleicht periodisch auf? Gibt es außer dem Jahresverlauf andere periodische Verläufe?

Wie Sie sehen, handelt es sich beim EVS um ein leistungsfähiges Programm, mit dem sich eine große Vielfalt von Daten analysieren läßt. Es besteht sogar die Möglichkeit, grafische Darstellungen zu speichern und hintereinander als Film abzuspielen, um die für solche Aufgaben träge Rechengeschwindigkeit des ST zu kompensieren.

Kleinere Mängel gibt es natürlich auch: z. B. arbeitet die Bildschirmdarstellung des Netzwerkes nicht immer sauber. Insbesondere, wenn man seitlich versetzte Module mit zwei Pfaden verbindet, sieht das recht seltsam aus, ein wiederholter Redraw ist notwendig.

Die Oberfläche ist nicht GEM-orientiert, das ist nicht so tragisch, aber wenigstens die Knöpfe zum Laden »Netzwerk <- Datei« und Speichern »Netzwerk - > Datei« sollten umbenannt werden, sie sind sehr leicht zu verwechseln und dabei kann man sich viel Arbeit zerstören. Für viele Besitzer sicher unangenehm: die Fixierung auf 640 x 400 Pixel — das ist nicht mehr zeitgemäß. Trotz dieser verbesserungswürdigen Kleinigkeiten ist das EVS eine ausgesprochen nützliche Hilfe, (hu)

IMA Datentechnik GmbH, Bauweber Str. 23, 8000 München 71


Alexander Niemeyer
Aus: ST-Magazin 03 / 1993, Seite 18

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