Schule der Mäusemaler (3. Teil): Die richtigen Proportionen und Schattierungen beim Zeichnen von Gesichtern

Eine wichtige Grundlage beim Zeichnen sind die richtigen Proportionen. Hilfslinien und Raster sind dabei sowohl in der traditionellen wie in der Computerzeichnerei ein entscheidendes Mittel.

Diesmal beginnen wir mit einigen Anmerkungen zum Zeichnen von Objekten und Figuren. Um komplizierte Bilder zu zeichnen, sollten Sie versuchen, die Vorlage möglichst abstrakt zu betrachten, d. h. darin versteckte Grundformen wie Rechtecke, Kreise, Kurven, Linien oder Linienzüge herausfinden. Es ist dabei gleichgültig, ob Sie eine Vorlage abzeichnen oder ein Bild frei entwerfen. Im ersten Teil des Kurses arbeiteten wir mit einfachen Zeichenfunktionen. Damals ging es um ein fertiges Ergebnis, das durch seine Abstraktion wirkt. Dieses Zerlegen einer Vorlage in abstrakte Einzelteile ist aber genauso wichtig, wenn man ein realistisches Bild zeichnet. Einfache geometrische Formen sind die Grundlage fast aller zeichnerischen Arbeit.

Bild 1. Gesichter und Köpfe weisen strenge Proportionen auf

Nehmen wir als Beispiel einen menschlichen Kopf. Wenn Sie versuchen, ein realistisches Selbstbildnis zu zeichnen, kommt dabei auf Anhieb nur selten etwas Vernünftiges heraus. Entweder wird der Mund zu groß, die Nase zu breit oder die Stirn zu flach. Im schlimmsten Fall erinnert das Ergebnis eher an ein Strichmännchen als an einen römischen Charakterkopf. Zugegeben, bis zum Charakterkopf ist es ein weiter Weg, aber über das Strichmännchen kommen Sie schnell hinaus, wenn Sie die Proportionen und Grundstrukturen eines Kopfes kennen.

Wagen wir uns zunächst an ein Bild von vorne. Jeder Kopf ist in etwa Ei-förmig. Von der Seite besteht ein Kopf aus zwei übereinanderliegenden Eiern und einer schrägen Säule, dem Hals (Bild 1). Das eigentliche Gesicht befindet sich vollständig in der unteren Hälfte des Kopfes. Die Augen sitzen genau auf halber Höhe des Kopfes, die Nasenspitze auf der unteren Viertellinie. Der Mund sitzt auf der unteren Achtellinie. Die Breite des Kopfes hängt von seiner Höhe ab. Teilen Sie die Breite des Kopfes in fünf etwa gleich lange Teile, und die Augenbreite und der Abstand der Augen zueinander und zum Rand des Kopfes liegen fest. Die Nasenflügel haben zusammen etwa die Breite eines Auges, der Mund ist doppelt so breit. Dieses Grundgerüst verändert sich je nach Gesichtstyp. Ein spitzes Kinn ist etwas weiterheruntergezogen, die spitze Nase nicht so breit gezeichnet. Doch das Grundgerüst gilt für alle Köpfe.

Als nächstes steht das genauere Zeichnen der einzelnen Gesichtsteile an. Dazu ist die Richtung wichtig, aus der der Kopf angeleuchtet wird. Gehen wir davon aus, daß das Licht von links kommt, dann müssen Sie beim Zeichnen des rechten Auges und der rechten Nasenhälfte den Schattenverlauf bedenken. Ebenso liegt die rechte Wange im Schatten, ist also etwas dunkler als die linke Gesichtshälfte.

Zum Ausformen der einzelnen Gesichtsteile verwenden Sie am besten feine Striche oder die Freihand-Funktion. Mehrere parallel verlaufende Striche bilden Flächen. Für dünne Schattierungen und unregelmäßig große Flächen ist die Sprühdose ein sehr gutes Werkzeug. Formen Sie die Konturen langsam immer stärker, doch hüten Sie sich vor Übertreibung. Die meisten Zeichenprogramme erlauben übrigens auch die Verwendung einer weißen Sprühdose: Damit können Sie zu dicht geratene Schattierungen wieder aufhellen. Damit ein gelungener Zeichenschritt nicht verloren geht, speichern Sie verschiedene Zwischenstufen bis zum Endergebnis.

Sehr hilfreich ist am Anfang das Zeichnen einzelner Gesichtsteile, damit man ein Gefühl für die Details bekommt. Der Schwung einer Lippe, die Länge der Augenwimper, all das läßt sich zunächst besser einzeln üben, als im Zusammenhang eines Gesichts. Das beschriebene Ausformen mit »leichter Hand« oder besser mit leichtem Strich gilt auch für andere Objekte. Holen Sie sich beispielsweise aus Ihrer Küche einige Gläser, Tassen und etwas Obst. Legen Sie diese Sachen neben Ihren Computer und versuchen Sie, das Bild zu zeichnen. Arbeiten Sie zunächst wieder mit Rechtecken und einfachen Linien (z. B. bei den Gläsern und Tassen). Im nächsten Schritt kommen die geschwungenen Linien und Bogenteile hinzu (Glasränder, Grundform eines Apfels etc.). Skizzieren Sie im nächsten Schritt einige Schattenbereiche und füllen Sie wieder mit der Sprühdose oder mit Rasterverläufen zu Flächen aus.

Bild 2. Ausgehend von einfachen Konturen entwickelt sich das endgültige Bild

Gelingt es Ihnen nicht, die richtigen Proportionen zu finden, dann wenden Sie folgenden Trick an: Denken Sie sich ein Raster aus waagrechten und senkrechten Linien über den Gegenständen und auch über den Bildschirm. Zur Not hilft ein entsprechend bemaltes Blatt Papier, auf dem die Sachen liegen. Am idealsten ist natürlich Millimeterpapier dazu geeignet. Zeichnen Sie dann ein solches Raster auf den Bildschirm.

Sie werden schnell merken, daß ein solches Raster bei der Übertragung von Vorlagen sehr hilfreich ist. Mit einiger Übung sehen Sie solche Raster auch vor Ihrem geistigen Auge und brauchen kein Papier mehr als Hilfsmittel.

Bei Zeichnungen, die größer als der sichtbare Bildschirm sind, verliert man schnell die Übersicht. Gegenmittel: Mehrere kleine Zeichnungen mit Paßmarken versehen und erst nach dem Ausdruck zusammensetzen.

Feine Striche geben einer Oberfläche die richtige Kontur.

Die Verwendung von Rastern auf dem Bildschirm ist vor allem bei Bildern anzuraten, die über die Bildschirmgrenze hinausgehen. Manche Programme erlauben sogar das Ein- und Ausblenden von Hilfsrastern. Zeichnen Sie z. B. eine Figur im DIN-A4-Format, gibt es neben dem Raster kaum eine bessere Orientierungshilfe, um proportionsrichtig zu zeichnen. Apropos große Bilder: Verfügen Sie nicht über ein Zeichenprogramm mit mehr als Bildschirm-großer Zeichenfläche, brauchen Sie trotzdem nicht auf große Bilder verzichten. Zeichnen Sie Teilobjekte und versehen Sie die einzelnen Bilder mit sogenannten »Paßmarken«. Sind die Bilder ausgedruckt, legen Sie die Teile Marke auf Marke übereinander und kleben die Teile zusammen. Dann die Marken mit Tipp-Ex entfernen und die Vorlage einmal fotokopieren, schon ist das »Gesamtkunstwerk« fertig. Dieses Verfahren findet im gesamten professionellen Zeichen- und Layoutbereich Verwendung, warum also nicht beim Hobbyzeichner.

Bild 3. Paßmarken und Tipp-Ex gehören auch zum Computerzeichnen

Als nächstes kommt eine Gruppe von Funktionen an die Reihe, die nicht in allen Zeichenprogrammen verfügbar ist, aber für eine Reihe lustiger Ergebnisse sorgt - die Effektfunktionen. Im einfachsten Fall ist das die Spiegelung eines Bildes oder Bildteils. Diese Spiegelfunktion erleichtert manche Arbeit. So entstanden die Zweiergruppen von Männchen aus dem letzten Teil mit der Spiegelfunktion. Verändert man die beiden Spiegelhälften nachträglich in einigen Details, fällt die Spiegelung kaum noch auf. Erheblich komplexer wird die Veränderung mit Verzerr- und Biegefunktionen, manchmal auch als »Rambo«-Funktionen bezeichnet. Entweder Sie bestimmen dazu einen Bildteil als Block und verzerren die Ecken in der gewünschten Weise, oder das Programm verrechnet einen Block mit einer bestimmten Linienform. Das kann entweder eine regelmäßige oder eine per Freihand bestimmte Linie sein. Bild 4 zeigt einige denkbare Veränderungen. Besonders hilfreich für Detailaufgaben sind die komplexen Projektionen auf gekrümmte Oberflächen. Nehmen wir an, in Ihrem Bild steht eine Litfaßsäule, an der einige Plakate kleben. Wollen Sie die alle per Hand zeichnen, haben Sie lange zu arbeiten. Die Rundungen der Säule verlangen oft viel Probieren, bis die Proportionen auf dem Plakat richtig sind. Viel einfacher geht es mit einer »Tonnenprojektion«. Sie zeichnen das Plakat ganz normal und lassen es per Programm auf eine Säule projizieren. Noch wichtiger ist eine solche Automatik für Kugelprojektionen. Versuchen

Angewandte Mathematik zum zweiten Mal: Verzerren, spiegeln, Projektionen und flexible Manipulation verschiedener Bildteile sorgen manchmal für lustige Zeichenergebnisse

Flexible Effektprojektionen sparen viel zeichnerischen Aufwand

Bild 4. Effekte wie Zerren oder Spiegeln realisieren die meisten Zeichenprogramme über Blockmanipulationen

Sie doch einmal, eines der abgebildeten Objekte per Freihand zu zeichnen. Die verwendeten Objekte stammen übrigens zum Teil aus einer Bildersammlung. Wer viel zeichnet und gestaltet, findet in diesen Sammlungen und Serien häufig eine brauchbare Vorlage oder ein fertiges Objekt, das, vielleicht ein wenig abgewandelt, manches Problem löst, daß man selbst nicht bewältigen kann. Solche Sammlungen haben noch einen weiteren Vorteil: Die Bilder verraten viel über richtige Proportionen und feine zeichnerische Details. Besonders, wenn Ihr Programm keine große Auswahl an Rastern hat, ist es sehr hilfreich, sich Rastertypen aus anderen Zeichnungen anzuschauen. Zum Schluß noch eine Tip für alle, die Spaß am Zeichnen gefunden haben und sich mehr über zeichnerische Grundlagen informieren wollen: Gehen Sie in eine Buchhandlung und stöbern in der Literatur zum Thema Hobbyzeichnen. Es gibt eine Reihe von Büchern und Heften, die sich mit Zeichengrundlagen beschäftigen. Die Autoren behandeln zwar nicht die konkrete Umsetzung für den Computermaler, aber solche Fragen wie Perspektiven, Figurenzeichnen, Proportionen oder Bildgestaltung und Bildaufbau sind unabhängig vom Zeichenmedium. Die Antworten gelten für die Bleistiftzeichner genauso wie für den Mäusemaler.

Alle Bilder auf Diskette

Damit Sie auch dieses Mal etwas zum experimentieren haben, sind wieder alle Bilder auf der TOS-Diskette vorhanden. Und wenn Sie selbst beim Pixelsetzen kleine hilfreiche Tips entdeckt haben, dann schreiben Sie uns. Wir geben sie gerne an alle Leser weiter. Damit sind wir am Ende unseres Zeichenkurses angelangt, sollten von Ihrer Seite noch Fragen offen sein, zögern Sie nicht, uns zu schreiben. Wir helfen umgehend.

Kursübersicht

Teil 1: Raster- und Vektorgrafik, einfache Zeichenfunktionen

Teil 2: Komplexe Zeichenfunktionen, Hilfslinien, Perspektiven

Teil 3: Effektfunktionen, Projektionen, großformatige Bilder

Bild 5. Solch komplexe Projektionen sind leider nur in wenigen Programmen verfügbar

Wolfgang Klemme
Aus: TOS 08 / 1990, Seite 54

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