Traumrolle: Atari-Einsatz in den Bavaria-Filmstudios

Ob als Bühnendekorateur, Hersteller von Requisiten, Mitarbeiter in der Verwaltung, hilfreiche Hand beim Synchronisieren und Nachvertonen oder als Statist - bei der Bavariafilm München macht der Atari ST in jeder Rolle eine gute Figur.

Freitag, vier Uhr nachmittags. Der erste Schnee liegt über München, am Horizont taucht die Sonne ins Abendrot. Auf dem Gelände der Bavaria Filmstudios am Geiselgasteig verlöschen die Schreibtischlampen, Kameras und Scheinwerfer verschwinden in den Abstellkammern, und ein kalter Luftzug streift durch die menschenleeren Hallen. Wem Münchens Film- und Fernsehparadies Nummer eins kein Begriff ist, dem sei verraten, daß hier der Geburtsort für viele Fernsehserien, Unterhaltungsshows und Kinofilme liegt, die teilweise weit über die Grenzen Deutschlands bekanntgeworden sind. Erwähnt seien an dieser Stelle nur die Serien »Rote Erde« und »Weißblaue Geschichten«, Unterhaltungsshows wie »Formel Eins« oder die weltbekannte Fantasy-Kinoproduktion »Die unendliche Geschichte«.

Über einer Halle prangt in Übergröße das Logo der neuen RTL-Plus-Personalityshow »Gottschalk«. In einem Hinterzimmer brennt noch Licht: Werner Runge, Produktionsleiter der Gottschalk-Show, bereitet die nächste Sendung vor. Hinter einem gewaltigen Papierberg entdecke ich meinen Gesprächspartner. »Setzen Sie sich, wenn Sie noch irgendwo Platz finden«, ruft er mir zu. Zwischen Cola-Kisten und Bühnen-Requisiten ziehe ich einen Stuhl hervor. »Ohne den da würde es hier noch chaotischer ausschauen«, schmunzelt Runge und deutet auf seine Computeranlage, bestehend aus einem Mega ST4 mit Großbildschirm und Wechselplatte, Laserdrucker SLM804 und einem Modem. Details wie das Laser-Kit von Digital-Image oder das Programm »ST-FAX« zum Senden von Telefaxen per Modem verleihen seiner Anlage den letzten Schliff. »Ja, damit kann man schon arbeiten«, lobt Runge seinen Atari-Computer.

Als Produktionsleiter der Gottschalk-Show kümmert sich Werner Runge unter anderem um die Dekoration und den Bühnenaufbau. Klar, daß er sämtliche anfallenden Daten mit dem ST verwaltet.

Werner Runge ist als freiberuflicher Requisiteur und Ausstatter für Film und Fernsehen für die Bavariafilm tätig. Ursprünglich wollte der 41-jährige Lehrer werden, studierte Biologie und Chemie. Über persönliche Kontakte kam er 1980 zur Filmbranche und war zunächst als Aufnahmeleiter beim ZDF tätig. »Das war aber nichts für mich, weil man da überhaupt nicht kreativ sein kann. Immer dem Regisseur den Kaffee bringen und schaun, daß die Schauspieler rechtzeitig da sind - nein danke.« Mehr Spaß bereitete ihm die Arbeit in der Requisite. Stolz zeigt mir Runge eine »1st Address«-Datei, in der er alle seine bisherigen Tätigkeiten aufgeführt hat.

Im Mai 1986 hatte Runge »den ganzen Papier- und Karteikram« satt und legte sich zum Verwalten seiner Daten einen Commodore 64 zu. Doch schon nach drei Tagen »hat mich die Kiste fast zum Wahnsinn gebracht. Ich hätte nicht gedacht, daß der sich bei 20 Datensätzen schon so abrackert.« Auf Empfehlung eines Freundes kaufte sich Runge einen 1040 ST und rüstete den Speicher auf 2,5 MByte auf. Kurz darauf stellte ihm die Firma Atari seine aktuelle Computeranlage zur Verfügung, weil »ich soviel mit Atari mache und oft Atari-Computer ins Bild bringe. Im März beispielsweise wird eine Folge der 'Weißblauen Geschichten' ausgestrahlt, wo in einer Episode in einem Büro nur Atari STs stehen.« Überhaupt macht der ST als Statist eine gute Figur. »Derrick, der Alte - wenn irgendwo Computer Vorkommen, setze ich den ST ein.« Manchmal stellt ihn diese Entscheidung vor unerwartete Schwierigkeiten. Runge erinnert sich: »In einem Krimi hatten wir wieder mal einen ST, und ich habe eine Kurzanleitung für 'Beckertext' verfaßt. Aber der Schauspieler stellte sich so ungeschickt an, daß ich am liebsten aufgegeben hätte.« Auch hinter den Kulissen mischt der Atari-Computer kräftig mit.

Als die ARD im Frühsommer letzten Jahres den Mehrteiler »Bismarck« mit Uwe Ochsenknecht ausstrahlte, dachte kaum jemand daran, daß ohne Werner Runge und seinen Atari ST die Produktionskosten ein Vielfaches höher gewesen wären. Die meisten »antiken« Briefe, Zeitschriften und Plakate entstammten der Feder, oder besser: dem Druckkopf des ST. Werner Runge: »Zuerst habe ich die Original-Handschrift Bismarcks eingescannt, die einzelnen Buchstaben getrennt und dann mit 'Signum' und 'STAD' wieder zu Briefen zusammengesetzt. Und alles muß ja mehrmals vorhanden sein, denn wenn der Ochsenknecht in einer Szene einen Brief zusammenknüllt und in die Tasche steckt, muß der in der nächsten Szene wieder frisch gebügelt sein. Für jeden Brief habe ich ungefähr zwei Nächte geopfert.« Auch Titelblätter für Bücher, »die es gar nicht wirklich gab«, fertigte Runge mit dem Atari an.

Ein weiterer Anwendungsbereich bei der Bavariafilm: die Synchron-und Nachvertonungsabteilung. Hier steht der ST über seine MIDI-Schnittstellen mit den Effektgeräten und teuren Musikproduktionssystemen in engem Kontakt.

Als der Kölner Privatsender RTL-Plus im Sommer 1989 seine Personalityshow »Gottschalk« aus der Taufe hebt, erhält Werner Runge einen neuen Aufgabenbereich. Als Produktionsleiter ist er nach eigener Aussage »Mädchen für alles«, kümmert sich um die Dekoration und den Bühnenaufbau, entwirft Terminpläne und sorgt dafür, daß die Gaststars für ihre Präsentation alles notwendige auf der Bühne finden. Manchmal beschafft er auch Unmögliches: »Erinnern Sie sich an dieses Musikproduktionssystem, auf dem der Gottschalk rumgeklimpert und es ernsthaft als Studiogerät vorgestellt hat? Das Ding gibt's eigentlich gar nicht, das ist nur der Werbegag einer Zigarettenfirma.«

Auch bei der umfangreichen Organisation der Gottschalk-Show (»jede Show kostet mich circa 70 Stunden Vorbereitung«) findet Werner Runge durch seinen ST Unterstützung. Er scannt die Grafiker-Vorlage des Gottschalk-Schriftzuges ein, verfeinert ihn mit Arabesque und entwirft produktionsinterne und offizielle Plakate, »die auch richtig ins Bild kommen«. Klar, daß Runge sämtliche anfallenden Daten wie Kontaktadressen oder das Requisiteninventar mit dem ST und 1 st Address verwaltet.

Oft erweist sich der Atari als Retter in der Not: »Einmal hatten wir für das Telefonspiel kein Foto des Preises, eines VW Golfs, das wir zeitweise einblenden. Also mußte ich eine Stunde vor Sendebeginn noch schnell mit Arabesque einen Golf zeichnen. Der wurde abfoto-grafiert und kommt jetzt bei Bedarf immer ins Bild.«

Bei der Textverarbeitung schwört Werner Runge auf Beckertext aus dem Hause Data Becker, weil »es das einzige Programm ist, daß neben einer Rechenfunktion auch eine Funktion zum Anlegen einer Maske besitzt. Letzteres sehe ich mehr von der praktischen Seite, aber Rechnen muß eine Textverarbeitung in jedem Fall können.« Andere Textprogramme hat Runge ausgiebig getestet, in Frage käme aber neben Beckertext nur »Tempus Word«, wenn es nicht einige gravierende Schwachstellen hätte: »Versuchen Sie mal, einen ASCII-Text nachträglich zu formatieren. Außerdem nehmen die ganzen Zeichensätze wahnsinnig viel Platz weg. Tempus Word, ein paar Fonts und 1st Address, schon sind 4 MByte voll. Außerdem - die ganzen Funktionen braucht kein Mensch.«

Im DTP-Bereich arbeitet Werner Runge mit »Calamus 1.09«. »Momentan gibt es keine Alternative«, meint er und fügt leise ein »leider« hinzu. Runge bemängelt an Calamus vor allem die schlechte Tabulatorenfunktion und die umständliche Bedienung. Zeichnungen entstehen heute mit Arabesque.

Dem Public-Domain- und Sharewaresektor mißt Runge hohe Bedeutung bei: »Hier gibt's viele gute und leistungsstarke Programme. Aber damit das so bleibt, ist Fairness oberstes Gebot. Wenn ich ein gutes Programm finde und auch regelmäßig benutze, schicke ich dem Autor das gewünschte Honorar, manchmal auch mehr.« Zu Runges Favoriten gehören das Kopierprogramm »FastCopy III«, die DFÜ-Software »Rufus« und der Virenkiller »Sagrotan«.

Mit der Mega-ST-Hardware ist Runge größtenteils zufrieden, lediglich das laute Lüftergeräusch bemängelt er. Vom 1040 ST würde er heute allerdings abraten: »Wenn Sie den Speicher später mal ausbauen wollen, gibt das Probleme. Außerdem ist die Tastatur mehr als bescheiden.« Runge bedauert das Schicksal des STE: »Ein toller Computer, aber leider produziert niemand Software, die ihn wirklich ausreizt. Außer ein paar Spielen und dem Malprogramm 'Deluxe Paint' gibt's momentan nichts. Dasselbe Schicksal trifft auch den neuen TT. Wann kommen endlich Programme, die seine Fähigkeiten nutzen?« Probleme für die Verbreitung des TT sieht Runge aber auch in der Hardware: »Der TT ist nur ein doppelter 16-MHz-Computer. Der Prozessor läuft zwar mit 32 MHz Taktfrequenz, das Motherboard dagegen bekommt nur 16 MHz ab. Außerdem ist der Preis noch viel zu hoch.«

Kann sich Runge vorstellen, seinen Mega ST gegen einen PC oder AT zu tauschen? »Unmöglich«, kommt es wie aus der Pistole geschossen. »Mein Bruder arbeitet mit so einer Kiste. Wenn er eine neue Konfiguration einstellen will, dauert das mindestens eine halbe Stunde. Außerdem bin ich an die komfortable Software gewöhnt und möchte mich ungern umstellen.« Demnächst will sich Runge in einer anderen Abteilung der Bavariafilm einen neuen Grafikcomputer ansehen und ausgiebig testen. »Dieses System ist besser als die Grafikmaschine, mit der Steven Spielberg arbeitet«, sagt er stolz. Bei der Frage, ob er sich näher mit größeren EDV-Systemen beschäftigen will, verschwindet das Lächeln aus seinem Gesicht: »Leider habe ich 20 Jahre zu spät mit Computern angefangen. Sonst würde ich wohl jetzt nicht hier sitzen, sondern mich in erster Linie mit dieser faszinierenden Technik beschäftigen.«

Die »antiken« Briefe für die Serie »Bismarck« entstanden mit Signum [links], das Gottschalk-Logo wurde in Calamus nachbearbeitet.
Für die Personalityshow »Gottschalk« reservierte die Bavariafilm München eine eigene Halle. Die Sendung läuft jeweils mittwochs um 20 Uhr bei RTL-Plus.

Thomas Bosch
Aus: TOS 02 / 1991, Seite 101

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