Wenn Riesen wachsen: Avalon 2.0, universeller Sample-Editor von Steinberg

Bereits in der Version 1.1 gehörte Avalon, der universelle Sample-Editor von Steinberg, zu den herausragendsten Vertretern seiner Art. Ist es nicht beängstigend, wenn ein solcher Goliath sich mit einem riesigen Satz auf die Version »zwonull« katapultiert? Keineswegs!

Ein unbestreitbarer Nachteil herkömmlicher Sample-Editoren - und somit auch der Sampler selbst - ist, daß sie auf vorgefertigtes Klangmaterial, das heißt auf bereits gesampelte Sounds angewiesen sind. Nur selten können sie eigenständige Klänge erzeugen und diese dem Anwender zur weiteren Nachbearbeitung zur Verfügung stellen. Auch »Avalon« bildete in dieser Hinsicht bislang keine Ausnahme, selbst wenn bis zur Obertonebene äußerst differenzierte Manipulationen möglich waren.

Bild 1. Bau' Dir Deinen eigenen Synthi. Avalon 2.0 macht's möglich.

Die aktuelle Version 2.0 löst dieses Manko auf höchst beeindruckende Weise mit der wohl herausragendsten Neuerung, der »Synthesis Page«. Ähnlich dem »Turbo-synth« von Digidesign erlaubt die »Synthesis Page« das Programmieren eines Klangs nach dem Modulsynthesizer-Prinzip. Dazu befinden sich am linken Bildschirmrand 19 Module zur Klangerzeugung und Klangveränderung. Diese Module ziehen Sie nach Bedarf auf die Arbeitsfläche und verbinden sie per Maus untereinander. Ein Doppelklick auf ein Modul öffnet ein Fenster für den Zugriff auf die jeweiligen Parameter. Ist die Kreation nach Wunsch ausgefallen, übernehmen Sie den Klang als Sample, oder speichern ihn einfach platzsparend als sogenannte »Connection«.

Doch nun zu den Modulen im einzelnen: Unter der Überschrift »Sound Sources« finden Sie fünf klangerzeugende Module. Eine solche Klangquelle ist im einfachsten Fall ein Sample, interessanter sind allerdings die vier verschiedenen Syntheseformen, die Avalon zur Verfügung stellt.

Die »Fourier«-Synthese erlaubt die Kreation eines Klangs aus sieben harmonischen Teiltönen. Dies mag zunächst wenig erscheinen, doch durch die Koppelung mehrerer Fourier-Module ist der Zahl der Obertöne kaum eine Grenze gesetzt. Auch die »Wavetable«-Syn-these ist schon vielen bekannt. Mehrere Wellenformen (Preset oder von Diskette ladbar) lassen sich hier hintereinander abrufen und mischen.

Eine schon etwas exotischere Klanggestaltung bietet die »Kar-plus/Strong«-Synthese. Hierbei durchläuft ein Rauschsignal eine Verzögerungsschleife. Bei jedem Durchgang errechnet der Computer den Mittelwert aus Original-und verzögertem Rauschen. Der so ermittelte Wert ergibt das Ausgangssignal. Das Ergebnis dieser kompliziert klingenden Synthese erinnert an perkussive oder gezupfte Instrumente und ist einzig von der Dauer der Verzögerungsschleife abhängig.

Die interessanteste Soundquelle ist die »FractaU-Synthese, die in dieser Form wohl erstmals für eine größere Anwenderschar zugänglich wird. Das der fraktalen Mathematik zugrundeliegende Konzept der Selbstähnlichkeit übertrugen die Programmierer in Avalon auf Kreise (ja, richtige Kreise... ), die sich einem festgelegten Regelwerk entsprechend vermehren. Die Parameter dieses Regelwerks (z.B. Iterationstiefe und Generationsstärke) sind vom Anwender frei zu bestimmen. Die hieraus resultierenden Klänge sind mit Worten nur schwer zu beschreiben. Sie entsprechen aber in keinem Fall althergebrachten Vorstellungen von Instrumentalklängen und laden gerade den experimentierfreudigen Musiker avantgardistischer Couleur zum Probieren ein. Besonders interessant ist der Vergleich zwischen dem erzeugten Klang und der dazugehörigen Kreisgrafik. Durch den Envelope-Generator erhalten Ihre Klangkreationen eine Hüllkurve mit beliebig vielen regelbaren Punkten. Der Envelope-Follower versucht hingegen, die typische, durch das Signal selbst vorgegebene Hüllkurve, charakteristisch auszuprägen. In der Modulationsabteilung gibt es ein Wiedersehen mit alten Bekannten. Von der Frequenz- (FM) und Amplitudenmodulation (AM) bis hin zur Phase-Distortion und Ringmodulation findet der digitale Klangbastler alles, was das Herz begehrt.

Gut gerüstet gibt sich auch die Filtersektion. Ein als Tiefpassfilter ausgelegter DCF (Digital Control-led Filter) mit frei wählbarer Eckfrequenz sowie ein parametrischer Equalizer, der alle denkbaren Filtertypen bereithält, stehen dem Anwender zur Verfügung. Die Funktion des Delay-Moduls bedarf wohl kaum der näheren Erläuterung. Die Verzögerung läßt sich sowohl in Millisekunden als auch in Sample-Words angeben.

Von ihrer Funktion her bekannt sind auch das Pitch-Shifter- und DCA-Modul (Digital Control led Amplifier). Der Pitch-Shifter erlaubt die Transponierung in 10 Cent-Schritten, also einer 120stel Oktave. Der DCA steuert die Amplitude des Eingangssignals durch ein zweites Signal, das wohl zumeist aus einem Hüllkurvengenerator bestehen sollte.

Klanglich ungewöhnliche Resultate erzielt der »Time Variant Wave-Shaper«. Er verzerrt ein Signal anhand einer bestimmten Kennlinie. Diese Verzerrungen haben - in Abhängigkeit von der jeweiligen Kennlinie - zum Teil erhebliche Änderungen im Teiltonspektrum des Klangs zur Folge. Um brauchbare Resultate zu erzielen, basieren die Kennlinien in Avalon auf mathematischen Algorithmen.

Wie im richtigen Leben, so laufen auch auf der Synthesis Page alle Leitungen in einem Mischpult zusammen. Bis zu zehn verschiedene Signale lassen sich in einem Mischer-Modul per Software-Fader aufeinander abstimmen. Schließlich bleibt noch das Makro-Modul zu erwähnen, das in seiner Funktion einem IC ähnelt. In einem Makro lassen sich nämlich beliebig viele Module unterbringen und über zehn Ein- und Ausgänge mit dem Makro verbinden. Beim anschließenden Arbeiten muß der Anwender dann jeweils nur ein einziges Modul verschieben.

Bild 2. Auch Kreise können klingen: Musik mit bizarrer Fractal-Grafik.

Dem ambitionierten Soundtüftler steht mit der Synthesis-Page ein außerordentlich mächtiges Werkzeug zur Verfügung. Der große Vorteil dieses Konzepts liegt in der Flexibilität, mit der die unterschiedlichsten Synthesearten in einem einzigen Sound Verwendung finden.

Trotz äußerst komplexer mathematischer und physikalischer Hintergründe ist das Arbeiten mit diesem Programmteil kinderleicht und reizt zu immer neuen Experimenten. Die hier gebotenen Leistungen übertreffen die der anderen auf dem Markt befindlichen Software-Synthesizer um Längen.

Doch es gibt noch mehr Positives zu vermelden. Neu hinzugekommen ist ein »Time-Stretching«-Modul, das es erlaubt, ein Sample ohne Veränderung seiner Tonhöhe zeitlich zu strecken oder zu komprimieren. Die Ergebnisse dieser Funktion sind bei angemessener Rechenzeit überzeugend. Gemäß der Volksweise »Alles neu macht der Mai« hat man Avalon auch einige kosmetische Korrekturen gegönnt. So strahlt der smarte Hamburger jetzt mit noch mehr »Mac-Appeal <, und viele Fenster und Dialoge haben das Fliegen gelernt, so daß der Blick auf wichtige Bildschirmbereiche jederzeit frei bleibt. Nur die in der Version 1.1 so hilfreiche Online-Hilfe hat man gestrichen.

In der Version 2.0 ist Avalon in der Lage, über ein spezielles SCSI-Interface mit bis zu vier Samplern zu kommunizieren. Die langen Übertragungszeiten via MIDI entfallen also.

Den Programmierern ist eine deutliche Aufwertung des an sich schon hervorragenden Programms geglückt. So viel Leistung bei derart einfacher Benutzerführung sucht auf dem ST seinesgleichen, (wk)

WERTUNG

Name: Avalon 2.0
Preis: 690 Mark (Update 60 Mark)
Hersteller: Steinberg

Stärken: Tolle Synthesefähigkeiten □ Time* Stretching □ einfache Bedienung

Schwächen: Keine Online Hilfe mehr

Fazit: De derzeit beste Sample-Processing-Software auf dem Atari ST


Kai Schwirzke
Aus: TOS 07 / 1991, Seite 129

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