Mehr als ein Karteikasten: Hypertext und Volltextretrieval mit 1st Card

Hypertext, für die einen das Wundermittel der Wissensorganisation, für die anderen das größte Rätsel seit der Erfindung des Computers. Im studentischen Alltag mußte ein Hypertext-ähnliches System beweisen, was Sache ist.

Seit einiger Zeit bietet die Firma LogiLex das Programm »1st Card« an. Es läßt sich als Expertensystemshell, Programmshell, Volltextdatenbank und auch als Hypertextsystem einsetzen. In letztgenannter Funktion ist 1st Card das einzige Programm für den ST, mit dem sich Hypertextnetzwerke in anwendungsfreundlicher und leistungsstarker Weise knüpfen lassen.

Was verbirgt sich überhaupt hinter Hypertext oder den im gleichen Zusammenhang verwendeten Begriffen Hypermedia und Multimedia? Diese Vokabeln stehen für einen Trend in der Softwareentwicklung, der seinen Ursprung schon in den Konzepten einiger Pioniere des Computerzeitalters hat. Das erste Hypertextkonzept erdachte Vannevar Bush für ein Online-Text- und Retrievalsystem mit Namen »MEMEX«. Er veröffentlichte seine Gedanken zu MEMEX bereits 1945 in einem Aufsatz, das System selbst blieb jedoch bis heute Theorie.

Der Begriff »Hypertext« geht auf Ted Nelson zurück, der ihn erstmalig 1965 zur Beschreibung einer weltweiten Hypertext-Bibliothek namens »XANADU« verwendete. Auch XANADU blieb ein Kind der Phantasie. Wirklich ist hingegen »HYPERCARD«, ein leistungsstarkes Hypertextsystem, das die Firma Apple seit geraumer Zeit zusammen mit ihren Macintosh-Computern ausliefert.

Man darf unterstellen, daß jeder schon einmal, auch wenn er keinen Macintosh besitzt, zumindest unbewußt mit Hypertext in Berührung gekommen ist. Schlägt man am heimischen Schreibtisch sein Lexikon auf, so sind die Stichwörter in der Regel durch Fettdruck besonders gekennzeichnet. Im Erklärungstext zu den Stichwörtern findet man häufig ebenfalls besonders gekennzeichnete Wörter, zum Beispiel durch einen vorangestellten Pfeil, die auf weitere, zu diesem Thema interessierende Stichwörter verweisen. Der Leser muß nun entscheiden, ob und welchem Verweis er folgen möchte, um sich weitere Informationen zu erschließen. Diese Vorgehensweise, in der er spontan seinen individuellen Gedanken folgt, nennt man »assoziativ«.

Eine solche Verweistechnik läßt sich als manueller Hypertext interpretieren. Das Lexikon bildet das Hypertextdokument, die Stichwörter die sogenannten »Knoten« und die Verweise die »Kanten«. Stellen Sie sich jeden Knoten als Karteikarte vor. Das Lexikon ist dann ein großer Karteikasten, der für jedes Stichwort eine Karte enthält. Würde man die Verweise und Stichwörter auf diesen Karten mit einem Bindfaden verknüpfen, entstünde daraus ein gewaltiges Netz. Im Computer ist diese Verknüpfung kein Problem, und das Ergebnis ist das »Hypertextnetzwerk«.

Für den Computeranwender heißt das, seine »elektronische Karteikarte«, den Bildschirm, mit Text zu füllen und darin Wörter zu markieren, zu denen weitere Informationen auf anderen Karteikarten abgelegt sind. Das Hypertextsystem verwaltet die vom Autor angelegten Verweise zwischen den Karteikarten. Der Benutzer erschließt sich das gewünschte Wissen, indem er assoziativ jene Karten auswählt, deren Inhalt er erfahren möchte. Die Auswahl erfolgt in der Regel durch Anklicken der gekennzeichneten Textstelle mit der Maus. Das lästige Blättern im Lexikon oder das mühsame Auffinden der benötigten Karteikarte entfallen, da der Computer die gewünschte Bildschirmseite in Windeseile sucht und anzeigt.

Wie läßt sich Hypertext im studentischen Alltag einsetzen? Ein Hauptbestandteil des Studentenlebens besteht in Vorlesungsbesuchen und im Aufarbeiten des dort Gehörten. Eifrig schreibt der Student mit, den Worten des Professors lauschend. So wächst der Aktenordner Blatt für Blatt. Bis zur Prüfung sammelt sich ein beträchtliches Kompendium an, das zu diesem Anlaß und für alle Zeit beherrscht sein will. Ein gängiges Verfahren zur Vertiefung des Vorlesungsstoffes ist das Anlegen und Lernen von Karteikarten.

Mit 1st Card läßt sich diese Aufgabe am Bildschirm bewältigen. Dies bringt beträchtliche Vorteile gegenüber der konventionellen Methode. Die Karten legen Sie unter Verwendung des in 1st Card integrierten und leicht zu bedienenden Editors an. Da Ihr ST die Karteikarten auf dem Massenspeicher verwaltet, kommen Sie nicht in die Verlegenheit, daß der Kartenstapel den Platz in Ihrem Karteikasten sprengt. Auch das Durcheinanderbringen oder den Verlust einer Karte brauchen Sie nicht zu fürchten.

Übersichtlichkeit ist bei der Gestaltung von Karteikarten erstes Gebot. Sie bringen auf Ihren Karten gerade soviel Information unter, wie Sie später beim Lernen auf einen Blick aufnehmen können. Im Idealfall erreichen Sie die Modularisierung der Information. Sie beschränken den Inhalt einer Karte auf einen bestimmten Aspekt und verweisen zur Spezialisierung der Information auf weitere Karten. Daß sich derartige Karten besonders leicht einprägen, steht außer Frage. Außerdem bietet dieses Verfahren den Vorteil, daß Sie die gleiche Karte gegebenenfalls auch in einem anderen Zusammenhang verwenden können. Unter diesem Aspekt ist die in 1st Card auf das Bildschirmfenster begrenzte Kartengröße konzeptionell von Vorteil.

Um eine Karte mit anderen zu verknüpfen, definieren Sie »Buttons«. Ein Button ist ein Feld auf der Karte mit einer bestimmten Funktion. In 1st Card ziehen Sie einen Button einfach mit der Maus an der gewünschten Stelle auf. Genauso einfach erfolgt die Zuweisung der Karte, die das Programm beim Anklicken des Buttons suchen und anzeigen soll.

Haben Sie einmal den Vorlesungsstoff auf Karteikarten übertragen und diese miteinander verknüpft, steht der interaktiven Arbeit mit Ihrem Hypertextsystem nichts mehr im Wege. Sie erschließen sich den Stoff Karte für Karte, indem Sie die Buttons anklicken, die Ihnen interessant erscheinen. Sind im Laufe der Anwendung neue Karten nötig oder alte überflüssig, ist das Netzwerk ebenso einfach zu verändern.

Besonders sinnvoll erscheint die Kombination von Hypertextsystem und Volltextdatenbank, wie sie in 1st Card verwirklicht ist. Das Programm speichert in einer relationalen Datenbank, wo Sie welches Wort verwendet haben. So finden Sie die Karten, die Sie interessieren, besonders schnell wieder. Dazu geben Sie Suchbegriffe ein oder klicken diese auf einer Karte einfach an. Auch verknüpfte Begriffe und Joker berücksichtigt das Programm bei der Suche. Wahlweise durchsucht 1 st Card dabei den Text sämtlicher Karten oder die Kartennamen. Dies ist eine Funktion, von der Benutzer konventioneller Karteikästen nur träumen können.

Für Prüfungen und Examina sind in der Regel mehrere Vorlesungen relevant. Mit 1st Card lassen sich die entsprechenden Kartenstapel verbinden. So verknüpfen Sie bei Bedarf auch Karteikarten verschiedener Vorlesungen miteinander. Von Vorteil ist auf jeden Fall, daß Ihre Suche nach bestimmten Informationen nicht auf eine Anwendung beschränkt bleibt.

In der nächsten Ausgabe geht es um den konkreten Einsatz von 1st Card im Studentenalltag, und zwar beim Anfertigen einer wissenschaftlichen Arbeit und ihrer Präsentation. (wk)

Literatur: J. Conklin: »Hypertext: An Indroduction and Survey« in: IEEE Computer, Sept. 1987 Seite 17-41, P. A. Gloor: Hypermedia-Anwendungsentwicklung, Stuttgart 1990

Bild 1. Auch die Verweistechnik in Lexika ist eine Form von Hypertext
Bild 2. Bei der Gestaltung der Karten hat man viele Freiheiten. Auch Grafiken sind zugelassen.
Bild 3. Volltextretrieval erlaubt das schnelle Finden von Karten

Thomas Schnieders
Aus: TOS 07 / 1991, Seite 72

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