Atarium

Im letzten Monat hatte ich ATARIs Drag&Drop-Protokoll vorgestellt und für diesen Monat Beispielquelltexte versprochen. Glücklicherweise hatte ich mir eine kleine Hintertür offengelassen (‚... wenn nichts dazwischenkommt ...‘), denn ich bin tatsächlich nicht rechtzeitig fertiggeworden.

Dennoch will ich das Thema diesen Monat nicht ganz auslassen. Oft ist es nützlich, sich jenseits der ATARI-Szene nach neuen Ideen umzusehen. In der Vergangenheit hat man logischerweise häufig auf den Mac geschaut, aber mittlerweile gibt es auch andere Systeme, die es wert sind, mal einen Blick zu riskieren - in diesem Fall IBMs OS/2 2.1.

Wie wir schon im letzten Monat gesehen haben, ist ATARIs Drag&Drop-Protokoll sehr flexibel definiert - man muß es eben nur mit Leben erfüllen.

Eine interessante Variante von Drag&Drop findet sich in den Systemeinstellungen des OS/2-’Desktops’, der ‚Workplace Shell’ (streng genommen handelt es sich um separate Konfigurationsprogramme, aber das spielt hier wohl kaum eine Rolle). Dort gibt es die ‚Font-Palette’, in der acht häufig benutzte Schriftarten eingestellt werden können (siehe Abbildung). Jede dieser Schriftarten kann dann per Drag&Drop auf das Fenster einer anderen Applikation gezogen werden, um für das betreffende Zielfenster die zu benutzende Schriftart festzulegen (natürlich kocht auch IBM nur mit Wasser: die entsprechende Applikation muß selbstredend das benutzte Protokoll kennen und unterstützen). Ähnlich wird auch mit Farbeinstellungen verfahren: dafür gibt es ganz analog eine ‚Color-Palette’.

Natürlich kann man das Ganze auch mit ATARIs Verfahren hinbekommen. Alles, was dazu benötigt wird, ist das zugehörige Programm und eine saubere Definition des benutzten Datenformats, wenn möglich mit dem Segen von ATARI Sunnyvale. Auf diese Weise ließen sich vielleicht auch noch ein paar ‚Schriftenmuffel’ dazu überreden, in ihren Programmen endlich wählbare GDOS-Schriften anzubieten (man denke beispielsweise an die Shell eines sehr beliebten C-Compilers ...). Damit soll der Ausflug in Richtung OS/2 noch nicht ganz beendet sein. Auch ansonsten bieten ‚Workplace Shell’ und ‚Presentation Manager’ einiges, was selbst ein eingefleischter ATARI-Fan nicht schlecht finden kann - beispielsweise ein Desktop, das in etwa so funktioniert, wie man es erwartet (Datei- und Ordnersymbole können auf dem Hintergrund abgelegt werden usw.). Als Schriften kommen PostScript-Fonts zum Einsatz, die Größen aller (!) Fensterelemente können eingestellt werden (hallo ATARI Sunnyvale!), und die 3D-Effekte der Dialogfelder sind auch sehr ansehnlich (ganz im Gegensatz zu denen, die uns Microsoft Windows bietet...). Nach so viel Lob muß allerdings auch kritisiert werden, daß das OS/2-Kommandofenster sehr schlecht integriert ist. Hier versagt das Drag&Drop-Protokoll nicht nur bei Farben (es bleibt bei Schwarz auf Weiß, schließlich wird hier ein ‚Textmodus’ simuliert) und Schriften (geht nur über einen programminternen Dialog), sondern auch bei ganz normalen Datei- oder Verzeichnissymbolen. Wie der geneigte Leser spätestens seit der letzten Ausgabe weiß, sollte in einem solchen Fall mindestens der zugehörige Dateiname eingefügt werden - eine Fähigkeit, die meines Wissens bislang nur ATARIs ‚Miniwin’ und natürlich ‚Gemini’ (wenn auch über das eigene, interne Drag&Drop) haben. Warum sich dies auf anderen Plattformen noch nicht durchgesetzt hat, ist rätselhaft.

Vom Drag&Drop zu ‚Mag!x’ überzuleiten ist einfach. Dies ist nämlich eines der MultiTOS-Features, das auch ‚normale’ Anwender an dem einfach schrecklich schnellen Multitasking-System von Behne, Behne und Kromke vermissen werden. Davon abgesehen, ist es aber jedem zu empfehlen, der auf seinem ATARI wirkliche Arbeit verrichten will und dabei GEM-Applikationen bevorzugt (Vorsicht, nicht für Falcon!). Schneller (auch auf einem 8MHz-Rechner) und kompatibler ist es wohl kaum zu machen. Zu sagen, daß sich Mag!x zu MultiTOS so ähnlich verhält wie NVDI zu VDI, wäre vermutlich eine schreckliche Untertreibung. Natürlich ist es schade, daß verschiedene Entwicklerteams parallel ‚gegeneinander’ entwickeln, aber im Endeffekt zählt eigentlich nur das Ergebnis für den Anwender, und das ist in diesem Fall allemal rundherum zufriedenstellend. Und so, wie hoffentlich ATARI Sunnyvale Mag!x als Ansporn sieht, noch etwas mehr Performance aus MultiTOS herauszuholen, werden hoffentlich die Mag!x-Entwickler das eine oder andere zusätzliche MultiTOS-Feature abschauen (Drag&-Drop, installierbare Dateisysteme usw.).

Womit wir auch schon bei MiNT angekommen wären. Die im Monat August freigegebene Version 1.08 hat leider einen Fehler, der dazu führt, daß der Pexec-Modus 200 nicht korrekt funktioniert. Es ist davon auszugehen, daß es zu dem Zeitpunkt, da dieses Heft erscheint, eine korrigierte Fassung geben wird. Neues gibt es auch von den MiNT-Libraries, die kurz vor Redaktionsschluß als Patchlevel 35 zum Testen freigegeben wurden.

Man glaubt es kaum, aber vom deutschen Entwickler-Support gibt es Neues zu berichten. Der hat nämlich nach dem Fortgang von Normen Kowalewski in Richtung ATARI Sunnyvale de facto zu existieren aufgehört. Was sich zunächst wie eine schlechte Nachricht anhört, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als eine eindeutige Verbesserung: zuständig ist nämlich nun Wilfred Kilwinger von ATARI Benelux, und der scheint seine Arbeit sehr ernst zu nehmen: Da werden zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit alle Entwickler angeschrieben (so sie es denn bis in ATARIs offenbar löchrige Datenbank geschafft haben). Wer sich übergangen fühlt, der melde sich bei ATARI (Benelux) B.V., Attn: Wilfred Kilwinger, Postfach 70,4130 EB Vianen, Niederlande. Entwicklerunterlagen sind offenbar auch plötzlich wieder beschaffbar, und sogar die Entwickler-CD soll nun bald da sein (zusammen mit brauchbaren Treibern). Und wer am MausNet (oder anderen gebräuchlichen News-Systemen) teilnimmt, hat sowieso längst Kilwingers Vorstellung inkl. seiner Email-Adressenliste zur Kenntnis genommen. Für allgemeine Support-Fragen gibt es in Schwalbach einen Telefonanschluß, der automatisch zu einer Nummer in den Niederlanden weiterschaltet; ähnliches gilt für die Entwickler-Hotline. Da kann man nur sagen: weiter so!

Die „Font-Palette“ von OS/2


Julian F. Reschke
Aus: ST-Computer 11 / 1993, Seite 104

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