Editorial - Glaubenskrieg


Der Teufel ist los: laute Stimmen, hitzige Worte, heißer Streit... was ist geschehen? In unserer Redaktion ist der Glaubenskrieg ausgebrochen! Drei Wochen vorher noch hatte die Redaktionsmannschaft einmütig den Beschluß gefaßt, endgültig mit einem Tabu der Computerszene zu brechen und die »neue Computergeneration«, Amiga und Atari ST, in einem riesigen zweiteiligen Vergleichstest knallhart mit den angeblich lahmen und technisch »veralteten« MS-DOS-Maschinen zu konfrontieren. Dabei sollten alle Emotionen vermieden werden und nur Fakten und Zahlen sprechen.

Jetzt, drei Wochen später, ist der erste Teil, der Vergleich der Hardware fertig. Sechs Mann — fast die halbe Redaktion — waren ein Dutzend Tage mit den Untersuchungen beschäftigt; einige Zimmer gleichen immer noch einem mittleren Warenlager, so viele Test-Computer stehen herum.

Dem Konzentrat, unserem Vergleichstest auf den Seiten 20 bis 39, sieht man diesen Aufwand kaum noch an. Aber die herausgefütterten Daten sind brisant, denn sie widerlegen eine landläufige Meinung in der Computerszene. Gerade die neuen preiswerten MS-DOS-PCs stehen den 68000-Computern Amiga und Atari ST selbst dort kaum nach, wo deren Stärken liegen, zum Beispiel in der Grafik! In einigen Bereichen sind die PCs sogar besser, so etwa in Sachen Stabilität und Verarbeitung. Bezieht man den etwas höheren Preis in die Wertung mit ein, steht es unentschieden.

Aber Computerfreaks sind begeisterungsfähige Menschen, und Begeisterung ist nicht immer rational zu begründen.

Da bilden engagierte Redakteure keine Ausnahme. Kaum war das Tfest-ergebnis bekannt, prallten auch in unserer Redaktion die Meinungen aufeinander, und die Emotionen brodelten. Die hitzige Diskussion brachte aber trotz aller Gefühlswallungen auch die sachlichen Grenzen eines solchen Vergleichstests ans Licht. Es reicht tatsächlich nicht, die nackten Daten zu vergleichen. Manche Stärke zeigt sich erst im ausgewogenen Zusammenspiel mehrerer Faktoren, denn in der Praxis besteht die für den Anwender wirksame Leistung aus den Einzelleistungen einer Vielzahl völlig unterschiedlicher Gerätekomponenten.

Davon abgesehen setzt jeder für sich andere Prioritäten. Dem einen ist ein niedriger Preis wichtiger als besonders schöne Grafik, einem anderen kommt es eher auf die Ausbaufähigkeit des Systems an. Der dritte schwärmt von einem besonders edlen Gehäuse-Design.

Seien wir froh, daß es diese individuellen Vorlieben gibt, sonst sähe die Computerszene recht eintönig aus. Und wenn wir zurückdenken, waren es sowohl bei den Herstellern wie bei den Anwendern die kleinen und großen Rivalitäten, die zu immer höheren Leistungen anspornten.

Ein Einheitscomputer — und wäre er noch so perfekt — könnte gerade uns Hobbyisten auf Dauer nicht fesseln.

Die gleichen individuellen Vorlieben und persönlichen Geschmäcker bei uns in der Redaktion garantieren auch, daß Sie, lieber Leser, in der Happy-Computer ein buntes Spektrum statt einem blassen Einheitsbrei vorfinden. Jeder Leser darf sicher sein, daß in der Redaktion mindestens ein Verfechter »seines Computers« sitzt, seine ganz spezielle Leserlobby sozusagen.

Ihr Michael Lang, Chefredakteur



Aus: Happy Computer 10 / 1987, Seite 9

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