Musik ohne Noten: Musici 16 — ein Musikinterpreter

Arrangieren Sie Glenn Millers »In The Mood« neu

Kommt in Musikerkreisen die Sprache auf das Thema »Musik und Computer«, dann fällt auch bald der Name Atari. Denn zumindest in Deutschland haben sich die Atari-Computer der ST-Baureihe als vielseitig einsetzbare Steuersysteme im Verbund mit modernen MIDI-Instrumenten, aber auch als komfortable Klangeditoren und — mit entsprechender Peripherie — als speicherpotente Soundsampler auf breiter Basis durchgesetzt.

Zu diesem Erfolg verhalfen dem ST nicht zuletzt die fest integrierten MIDI-Anschlüsse und die im Betriebssystem verankerte MIDI-Schnittstelle, die spezielle Hard- und Softwareerweiterungen überflüssig machen. Dank dieser günstigen Voraussetzungen entstand in relativ kurzer Zeit eine breite Palette ausgesprochen leistungsfähiger MIDI-Pro-gramme, wobei der Schwerpunkt von Angebot und Nachfrage zweifellos im Bereich der Sequencersoftware angesiedelt ist.

Ein Sequencerprogramm verwandelt den Atari ST in ein Steuergerät, das die von einem MIDI-kompatiblen Musikinstrument ausgesendeten, digital codierten Musikdaten über Tonhöhe, Tondauer, Anschlagsstärke etc. speichert und über beliebige »MIDIfizierte« Musikinstrumente wieder zum Klingen bringt. Der Musiker modifiziert die Musikdaten genauso wie andere Daten im Computer oder ergänzt sie durch zusätzliche Eingaben. Dabei macht die gebräuchliche Sequencer-Software eifrigen Gebrauch von grafischen Bedienungselementen. Die modernen Programme besitzen sogar Musikdateneditoren mit Notenschriftdarstellung.

Da jeder einzelne Ton beim Editieren der MIDI-Daten am Bildschirm beliebig modifizierbar ist, kann man auch den ersten Arbeitsschritt weglassen und das komplette Arrangement gleich über die Computertastatur oder per Mausbedienung — Schritt für Schritt (step-by-step) — eingeben, um es anschließend in der beschriebenen Weise spielen zu lassen. In diesem Fall nutzt man das sogenannte »Composer-Prinzip«, das jeden Musikinteressierten mit musikalischen Ideen zum Komponisten werden läßt.

Allerdings ist einzuräumen, daß das Arrangieren am Bildschirm ohne Zuhilfenahme eines MIDI-Keyboards als Eingabemedium trotz der ausgesprochen komfortablen und leistungsstarken Sequencerfunktionen, die die bekannten Programme für den ST anbieten, nicht gerade ein müheloses Unterfangen darstellt.

An dieser Stelle setzt das von Prof. H. Walz entworfene Composer-Programm »Musici 16« an, das als sogenannter Musikinterpreter eine deutlich abweichende Konzeption erkennen läßt. Obwohl es im Reigen der Sequencerprogramme für die ST-Computer als krasser Außenseiter auftritt, bietet Musici 16 vielleicht gerade aus diesem Grunde für Musiker, aber auch für musikpraktisch weniger erfahrene Nichtinstrumentalisten eine besondere Chance, eigene MIDI-Songs zu realisieren.

Musici 16 verzichtet von vornherein auf die Einspielung von Musik per Keyboard, ja, es existiert nicht einmal ein eigenes Programm zur Erfassung der benötigten MIDI-Musikdaten. Vielmehr genügt ein handelsüblicher Texteditor wie Tempus oder 1st Word plus, um alle musikalischen Vorstellungen in ein vollständiges MIDI-Arrangement umzusetzen.

Der »Komponist« gibt die notwendigen Angaben direkt mit der Computertastatur ein, vergleichbar mit dem Schreiben normaler Texte oder Listings. Nach Beendigung der Dateneingabe speichert man die »Musiktexte« als ASCII-Datei auf Diskette. Der Musikinterpreter liest die Datei, wandelt den Text blitzschnell in die entsprechenden MIDI-Daten um und sendet sie zum MIDI-Instrument. Als Resultat ertönt das im Text beschriebene MIDI-Arrangement.

Die Eingabesyntax verlangt Notencodes, die sich an die beim Benennen von Noten üblicherweise verwendeten Bezeichnungen anlehnen. So bewirkt zum Beispiel die Angabe »f # 1 !A«, daß ein eingestrichenes fis als Viertelnote erklingt. Der Interpreter verarbeitet Notenbezeichnungen vom großen C bis zum dreigestrichenen c, also einen Tonraum von maximal vier Oktaven.

Jede Musikdatei beginnt mit drei Zeilen, die den Musiktitel mit Angabe des Komponisten, das Grundtempo und die Klangverteilung der Stimmen festhalten.

Bisher unterstützt Musici 16 als Ausgabeinstrument lediglich den bekannten MIDI-Expander FB-01 von Yamaha (ein FM-Klangsynthesebaustein mit acht unabhängig klingenden Stimmen), andere MIDI-Instrumente sollen laut Aussage des Herstellers in absehbarer Zeit hinzukommen.

Der FB-01-Expander kann jede Stimme mit einer eigenen Instrumental-Klangfarbe ausgeben und daher eine achtstimmige Combo simulieren. Mit zwei angesteuerten FB-01 lassen sich sogar 16 unabhängige Instrumentalstimmen programmieren und zum computergesteuerten Orchester vereinen. Der klangvolle Expander enthält neben frei programmierbaren Klangbänken fünf Klangbänke mit je 48 Klangregistern, so daß für jedes MIDI-Arrangement eine stattliche Anzahl von auswählbaren Instrumentalklangfarben zur Verfügung steht.

Nach Auswahl dieser Klangfarben und des Grundmetrums folgen die Noteninformationen für die maximal 16 Stimmen des MIDI-Songs. Die Eingabe ist im wesentlichen formatfrei, alle Bezeichnungen in einer Zeile müssen lediglich durch eine Leerstelle getrennt sein. Jede Zeile enthält die gemeinsam erklingenden Noten, die laufenden Daten einer Instrumentalstimme stehen in einer Spalte untereinander. Das Minuszeichen symbolisiert eine Pause, ein einfaches Hochkomma »’« hält den angegebenen Ton.

Über die bisher genannten Angaben hinaus läßt sich das Arrangement in musikalisch relevanter Weise beeinflussen. Die Eingabe »L« (= links) und »R« (= rechts) für jede Stimme legt beispielsweise deren Stereoposition bei der Klangerzeugung mit dem FB-01-Expander fest. Durch den Stereo-Effekt gewinnt ein vielstimmiges MIDI-Arrangement an hörbarer Transparenz. Die üblichen Dynamikbezeichnungen wie »pp« (pianissimo) oder »f« (forte) fixieren die Lautstärke jeder einzelnen Stimme in neun Stufen. Die Tondauer wird durch die bekannten Bruchzahlen am rechten Rand der Stimmenliste angegeben, zum Beispiel »1/16« für Sechzehntelnoten oder »1/8.« für punktierte Achtel.

Das absolute Tempo ist jederzeit durch Eingabe einer neuen Metronomzahl zwischen 50 und 200 veränderbar, Beschleunigung oder Verlangsamung erreicht man mit »acc« (accelerando) oder »rit« (ritardando).

Als Beispiel für eine Musikdatei sollen der erste Takt des berühmten C-Dur-Präludiums von Joh. Sebastian Bach sowie der Anfang aus dem Hauptteil des bekannten Jazz-Standards »In the Mood« von Glenn Miller dienen.

Ob es sich um einen echten Vorteil handelt, wenn man ein MIDI-Arrangement wie den Source-Code eines Programms oder wie irgendeinen beliebigen Text eingeben kann, ist natürlich nicht objektiv entscheidbar, da es immer auf den persönlichen Zugang zur Musik ankommt.

Vorstellbar ist, daß man eine fertige Partitur in Notenschrift schneller auf der Computertastatur mit Hilfe der ASCII-orientierten Notensyntax umsetzen kann als mit einem der bekannten Sequencer-programme. Der vermeintliche Rückschritt in die Zeit der alphanumerischen Befehlsfolgen im Vergleich zur symbolorientierten GEM-Bedienungsoberfläche macht hier durchaus Sinn.

Identische oder ähnliche Musikpassagen lassen sich mit Hilfe der üblichen Text-COPY-Funktionen rasch anlegen, mit Texteditorfunktionen wie »SUCHEN« und »ERSETZEN« bewirkt der Musikschreiber gezielte Veränderungen, wie etwa den Wechsel eines Musikstückes von Dur nach Moll durch globalen Austausch eines Tons.

Die Größe einer Musikdatei ist leider auf 32 KByte beschränkt, das Lesen einer Musikdatei über das MIDI-Standardformat ist nicht vorgesehen, eine Schnittstelle zu einem Notendruckprogramm fehlt. Von großem Vorteil wäre die optimale Unterstützung weiterer MIDI-Instrumente und eine Erweiterung des vorgegebenen Tonraums.

Musici 16 stellt ohne jeden Zweifel ein außergewöhnliches Programm dar. Für MIDI-Arrangeure, die vorrangig an der Arbeit im Composer-Modus interessiert sind, bietet Musici 16 eine echte Alternative zu den bekannten Sequencerprogrammen. (W. Fastenrath/ts)

Vertrieb: Ludwig Bürotechnik, Ingolstädter Str. 62L, 8000 München 45, Citystudio, Rindermarkt 6, 8000 München 2
Autor: Prof. Herbert Walz, Anton-Köck-Str. 8, 8023 Pullach b. München

Mit jedem beliebigen ASCII-Editor lassen sich einfach ganze Partituren schreiben. Die verwendete Syntax lehnt sich an die üblichen Notenbezeichnungen an.
So sieht eine Musikdatei aus

Bernd Enders
Aus: ST-Magazin 01 / 1989, Seite 60

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