Presto: Komponieren ohne Noten

Klänge sehen aus wie Blumen — ein Akkord gleicht einem Baum. Ein Federstrich mit der Maus und schon entstehen Ornamente und Verzierungen. Noch nie war es so schön und leicht, die Welt der Musik zu entdecken.

Ganz schön presto und unkompliziert findet nun auch der Laie Spaß am Musizieren, Komponieren und musikalischen Experimenten. Das Programm »Presto« der Schweizer »marvin AG« ermöglicht jedermann, kreativ Musik zu machen, bestehende Werke zu analysieren und neu zu gestalten. Und das alles ohne eine einzige Note lesen zu können oder ein Instrument zu spielen.

Gerade für den musikalisch Unbelasteten ist die neue und auf den ersten Blick nicht eben alltägliche Darstellung von Klängen ideal, da alle Klangaspekte sofort klar sichtbar sind und leicht editiert werden können. Dabei sind die Schranken der Notation und der klassischen Instrumentaltechnik aufgehoben.

Die wichtigsten Arbeitsbereiche der Mainpage: Scores, Tempo und Register

Hinter dem Spaß für jedermann steckt allerdings ernste Wissenschaft: Presto entspricht der geometrischen Musiktheorie, die 1979 an der Universität in Zürich entdeckt wurde. Das gesamte klassische Werk wird nach und nach für Presto aufbereitet und auf Disketten veröffentlicht. Ein neuer, revolutionärer Musikunterricht soll die verstaubte Musiktheorie nicht zuletzt auch in Schulen ersetzen.

Prestos Mainpage garantiert jederzeit den Überblick über die gesamte Komposition und zeigt zugleich die zur Bearbeitung vorgesehenen Teile. Im »Globale Score« — der Zeitachse für das komplette Werk — sehen Sie die bespielten Teile der Partitur als schwarze Balken. Daraus wählt man einen beliebigen Teil des Songs zur Bearbeitung aus. Das geht recht einfach: Während Sie den Cursor mit der Maus über die Zeitachse ziehen, zeigt sich im »Score« ein kleiner Ausschnitt in detaillierter Form. In der Grundeinstellung werden im Score-Fenster die Einsatzzeiten der Noten horizontal und die betreffenden Tonhöhen vertikal dargestellt. Der Tonhöhenbereich umfaßt 71 Halbtonschritte, das sind zirka sechs Oktaven. Klänge werden dabei als kleine Quadrate dargestellt. Innerhalb der Score kann man natürlich auch Taktmaß, Geschwindigkeit und Auflösung an jeder Position der Komposition verändern.

Genau wie in Textverarbeitungsprogrammen, lassen sich beliebige Ausschnitte der Globale Score als Blöcke definieren; diese können zur Kontrolle auch separat angehört und — nach dem Vorbild eines Malprogramms — durch Verschieben, Überschneiden und sämtliche mathematische Mengenoperationen wie UND-, ODER-, XOR-Funktionen etc. mit anderen Teilen verknüpft werden. Die einzelnen Blöcke können außerdem transponiert, einer Zeitumkehr — in der seriellen Musik »Krebs« genannt — oder einer Tonhöhenspiegelung unterzogen werden.

Der Local Score im Detail: zum Mauszeichnen, Einspielen und Bearbeiten

Im Fenster unterhalb der Score dreht es sich um die Geschwindigkeit. Die freudige Überraschung: Endlich ist Schluß mit der mechanischen, robotähnlichen Tempobehandlung. Im Gegensatz zu den meisten existierenden Sequenzern haben Sie das Tempo stets voll in Ihrer Hand. Die Geschwindigkeit wird durch eine grafisch-interaktive Kurve beeinflußt. Sie können den gewünschten Speed Ihrer Kreation direkt beim Mithören — bis in den Mikrobereich — gestalten. Die Tempokurve zeigt dabei an jeder Position, wie viele Beats pro Minute durchlaufen werden. Mit der Maus setzen Sie auf der Zeitachse Punkte und ziehen diese nach Gummibandmanier nach oben bzw. unten. Dies gewährleistet feinste Abstufungen, die aus einer mechanischen Timingstruktur eine menschlich-ausdrucksvolle macht. Erst so wird die Komposition wirklich lebendig.

Damit können Sie sogar den Werken aus anderen Sequenzern auf die Sprünge helfen, indem Sie sie direkt durch die Presto-Tempokurve über die MIDI-Clock synchronisieren!

Trafoketten verbinden Kompositionsteile

Unter der Tempokurve verfügt die Mainpage über sieben Register. Das sind Minispeicher zum Zwischenlagern, Testen und Bearbeiten einzelner, kurzer Parts. Sie stellen ebenso wie der Score quadratische Ausschnitte der Komposition mit jeweils 71 Einsatzzeiten und 71 Tonhöhen dar.

Das letzte Register verwendet Presto als »Local Score«. Er dient in erster Linie neuen Einspielungen — egal ob über ein MIDI-Keyboard, mit der Maus oder mittels Datentransfer aus anderen Sequenzern — als Zwischenstation. Erst wenn Sie sich Ihrer Sache sicher sind, transportieren Sie diese Kompositionsteile von der lokalen zur globalen Score. Der lokale Score besitzt sechs Parameterebenen: Einsatzzeit, Tonhöhe und -länge und Lautstärke. Die beiden anderen Ebenen entstehen aus einer beliebigen Kombination dieser Parameter. Sie können in jeder dieser Ebenen — wiederum auf einem quadratischen Arbeitsfeld von 71 x 71 Einheiten — arbeiten. Das Besondere dabei: Bei Presto werden alle geometrischen Parameter gleichberechtigt behandelt. Innerhalb der lokalen Score läßt sich jede Note über ein Fadenkreuz erreichen. Die Koordinationswerte der jeweiligen Ebene lassen sich rechts unten ablesen.

Ungewohnte Technik: Geltungsbereich für Quantisierungsbefehle

Presto arbeitet mit 16 Instrumenten, jeweils eines für jeden MIDI-Kanal. In allen grafischen Darstellungen erhält jedes Instrument sein eigenes Icon. Auf einer Leiste innerhalb der Mainpage lassen sie sich separat an-oder ausklicken.

Mit diesen Icons können Sie Ihre Klänge im vierdimensionalen Raum malen und — ohne Kunstpause — unmittelbar hören. Natürlich lassen sich Ihre Tonschöpfungen genauso schnell wieder löschen.

Ein kleiner Trick: Wählen Sie eine beliebige Parameterebene, in der Sie zu malen beginnen. Wenn Sie dann die Ebene wechseln, werden Sie überrascht sein, welche unerwarteten Ergebnisse dabei herauspurzeln!

Wichtige vordefinierte Skalen z.B. für die Tonhöhenquantisierung

Wer will, kann mit Presto auch auf ganz traditionelle Weise über ein MIDI-Instrument aufnehmen. Dabei ist es egal, ob Sie Ihr Spiel zu einem Metronom synchronisieren — dabei tickt’s im internen Atari-Speaker — oder völlig frei einspielen und das Taktmaß im nachhinein bestimmen. Sie können sowohl ein völlig neues Tongebilde schaffen oder zu bestehendem Klangmaterial — z.B. einem Schlagzeug — andere Instrumente hinzufügen. Natürlich lassen sich Einspielfehler oder störende Ungenauigkeiten schnell eleminieren. Und das nicht nur durch Timing-Quantisierung, auch Tonhöhen können Sie in eine beliebige Tonart bzw. Skala transponieren. Skalenfremde Töne passen sich dann entweder automatisch an die vorgewählte Tonart an oder lassen sich ganz eliminieren. Außerdem können Sie durch gezielte Verschiebungen, ohne dabei auch nur einen einzigen Ton zu verlieren, bestehende Blöcke verändern. Alle Änderungen beziehen sich wahlweise auf jedes einzelne Icon separat oder die gesamte Einspielung. Das alles erledigen Sie ganz presto presto einfach mit der Maus oder über Tastaturbefehle.

Wollen Sie einen vordefinierten Bereich Ihrer Komposition mit bestimmten Eigenschaften — z.B. einem Glideeffekt — belegen? Mit dem Färbeprozessor von Presto ist auch das absolut kein Problem! Sie stellen für diesen Part nur die gewünschten Begrenzungswerte ein — am schnellsten geht’s mit der Maus.

Durch die geometrische Musiktheorie erinnert Presto freilich eher an ein Malprogramm als an eine Musiksoftware. Das gilt allerdings nur für Optik und Bedienung. Die Ergebnisse sind z.T. überraschend. Wer allerdings an konventionelle Sequenzer gewöhnt ist, wird sich anfangs schwer tun. Neulinge mögen sich wundern, warum im Computerzeitalter so viele Musiker — die sich gern progressiv nennen — sich mit einer völlig überholten Musikdarstellung quälen, (mn)

Aufnehmen: Mini-Icons bestimmen den MIDI-Kanal

WERTUNG

Presto

Hersteller: marvin AG
Preis: 850 Mark
Kopierschutz: Hardware-Key

Stärken: revolutionäre Musiknotation, flexible Musikdarstellungen, neues Arrangement-Konzept durch Register klassisches Repertoire, ideal für Anfänger

Einschränkungen: erzwingt neues Musikverständnis

Vertrieb: Stopper innovative Software, Schulstr. 10,7407 Rottenburg 15


Ingrid Sitte-Nadler
Aus: ST-Magazin 06 / 1992, Seite 46

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