Editorial: Geflügelsalat

Wer die ersten inoffiziellen Fotos von Ataris Spatz sah — der sich ja mittlerweile zum Falken gemausert hat — wird weder an Sperling noch Greif gedacht haben, sondern eher an das häßliche Entlein aus Andersens Märchen. Zeitungsenten, wie ein verschämt von der Seite abgelichteter und als Falcon 030 verkaufter 1040er, untermalten das Bild vom quakenden Federvieh weiter.

Warum um Himmels Willen verpackt Atari seine Zukunftspläne in ein Gehäuse, das vielleicht vor fünf Jahren gefragt war, aber mittlerweile als bleigraues Mahnmal für Unbeweglichkeit und mangelnde Flexibilität die Regale der Händler drückt? Warum diese Imagehypothek? Warum kein geräumiges, modern designtes Lifestyle-Outfit, das die technische Überlegenheit des Falcon 030 bereits optisch zur Schau trägt?

Die Häßliche-Entlein-Politik des kalifornischen Spielkonsolenherstellers erscheint in der Öffentlichkeit alles andere als glücklich, weil sie geprägt ist von den kaum berechenbaren Launen der US-Chefetage.

Bei sorgfältigem Nachdenken allerdings ist das Konzept (nicht die Launen) der Amerikaner sogar verständlich. Sicher gibt es — vor allem im deutschsprachigen Raum — viele fortgeschrittene Freaks, die allemal lieber Geflügel wählen als angebissenes Obst, wenn es um geistige Nahrung geht. Sie haben mit Spielekram nichts am Hut, wollen ihren ST als Profigerät ernstgenommen wissen, prägen die Szene mit heiligem Eifer und haben feste Vorstellungen von einem neuen TOS-Computer.

Außerhalb dieser eingeschworenen »Familie« jedoch hat sich (auch wenn’s weh tut) das Bild der Firma Atari kein Haarbreit vom Kindercomputer wegbewegt.

Nachträglich betrachtet, ist es gar nicht schlecht, daß das Kindercomputerimage allen Missionierungsversuchen ernsthafter Anwender zäh widerstanden hat: Während die nadelstreifenseriösen Hersteller sogenannter Proficomputer — völlig gleich, ob sie nun IBM, Compaq oder sonstwie heißen — den Noname-Preiskrieg verloren haben und heute völlig ohne Grund die Nase gen Himmel tragen, ist die Computer-Entertainment-Branche längst wieder im Aufwind. Gefragt ist, was Spaß macht: Grafik, Animation, Sound, Action. Multimedia, Multimedia!

Da käme der Falcon ja gerade richtig. Vor allem billig muß er sein, billiger als die gesamte Konkurrenz (billig heißt ja nicht schlecht). Ein Computer, den man Sohnemann auf den Gabentisch legen kann, einer, der sich schnell in großen Stückzahlen verkaufen läßt, einer, der eine solide Finanzbasis sichert. Ein großes Gehäuse ginge völlig am Markt vorbei, würde den Preis nach oben treiben und große Stückzahlen schon ab Start verhindern.

Klingelt die Kohle erst einmal in der Kasse, sollen endlich auch die anspruchsvollen Fans bedient werden: Was der Falcon 030 mit Absicht nicht hat, soll dann der große Bruder bieten, der Falcon 040 — möglicherweise schon auf der Atari ’92 zu sehen.

Allzuviel Geduld mit einem Hersteller, der sein schrumpfendes Häuflein Fans immer wieder mit »möglicherweise«, »soll« und »vielleicht« enttäuscht? Allen Ungeduldigen viel Spaß beim Windows-Fen-sterln und Geldbeutel-Zücken*

Es grüßt Sie freundlich


Hartmut Ulrich
Aus: ST-Magazin 08 / 1992, Seite 3

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