Universalgenie oder Einzelkämpfer: Das Für und Wider integrierter Pakete

Unter DOS gefeiert, auf Mac geduldet, beim Atari geschmäht - integrierte Pakete. Auch wenn die Software-Welt sich nicht immer so extrem darstellt, die Grundtendenz ist eindeutig. Es ist deshalb an der Zeit, sich einmal Gedanken darüber zu machen, warum Anwender auf dem Atari so unzufrieden klingen, sobald es um den kombinierten Einsatz von Software geht.

Textverarbeitung ist zweifellos die wichtigste und am weitesten verbreitete Computeranwendung. Nicht zuletzt die ständig steigende Zahl entsprechender Programme beweist, daß hier ein immenser Bedarf immer noch nicht befriedigt ist. Die beiden neuen Kandidaten »Sparrow Text« und »Papyrus«, die wir Ihnen auf den folgenden Seiten ausführlich vorstellen, werden mit Sicherheit ihre Anwender finden. Entweder, weil sie in einen Bereich vorstoßen, der bisher noch nicht erschlossen war, oder weil sie mit neuen Features überraschen und alte Zöpfe abschneiden. Gleichgültig, ob eine Textverarbeitung heute neu auf den Markt kommt, oder ob sie als neue Version eines bekannten Konzepts auftritt, immer ist ein eindeutiger Trend in Richtung wachsender Funktionalität zu beobachten. Daß dabei auch die Bedienbarkeit nicht außer Acht gelassen wird, ist erfreulich. Schade finde ich es freilich, wenn diese ständig steigende Funktionalität sich immer nur auf Teilbereiche beschränkt und nicht in einem größeren Zusammenhang steht. Einige Beispiele:

Es gehört doch heute schon zum guten Ton eines längeren Aufsatzes, daß er mit computergezeichneten Bildern garniert wird. Warum bitteschön ist es, von ganz wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, nicht möglich, Grafiken ohne Zwischenspeicherung von einer einfachen Grafikapplikation zur Textverarbeitung direkt im Speicher zu übertragen. »Piccolo« und »Signum« leben diese Symbiose vor, wo bleiben die Nachahmer? Das gleiche gilt für das Thema Datenbanken. Auch hier ist eine direkte Übernahme, beispielsweise von Adressen in die Textverarbeitung, nur vereinzelt und zum Teil über fast idiotische Wege realisiert. Ob den Herren Programmierern (von den Damen Programmiererinnen habe ich noch gar nichts gehört) wohl schon einmal das XACC-Protokoll über den Weg gelaufen ist? Von der Übernahme eines Tabellenbereichs aus einer Kalkulation will ich gar nicht erst reden. Da setze ich mich doch lieber an meinen multitaskenden Macintosh und harre der Dinge, die bei Atari angekündigt sind. Genug gefrotzelt, ich gebe zu, die genannten Anforderungen gehören in eine Spitzengruppe von Anwendungen. Doch einige integrierte Pakete, oder zumindest einen Ansatz davon, findet man auch auf dem Atari.

»Steve« ist ein solcher Kandidat. Seit Jahren führt er ein Schattendasein im Softwaremarkt. Von seinen wenigen Anwendern heiß geliebt, von den meisten anderen völlig übersehen. Der große Vorteil von Steve ist die Integration von Text-, Datenbank-, Grafik- und DTP-Elementen. In einer Professional-Version beherrscht dieses Programm sogar die Schrifterkennung. Alle Teile sind von ihrer Funktionalität sehr gut aufeinander abgestimmt. Der Vorwurf, ein integriertes Paket komme aus einer Hauptrichtung und die anderen Teile seien halt mehr schlecht als recht angeflickt, trifft hier sicher nicht zu. Trotzdem kein eitel Sonnenschein, denn die Handhabung ist ungewohnt, Atari-untypisch, das Arbeitstempo stellenweise quälend langsam. Wer mal eben schnell... der sollte es lieber lassen. Und sonst? »Calligrapher« schläft den Schlaf des Unfertigen und »WordFlair II« kommt erst gar nicht so weit. Das Ende der Fahnenstange scheint erreicht.

Die Alternative heißt »Hauptanwendung plus Accessories«. Man suche sich eine schnuckelige Textverarbeitung, nehme eine Datenbank und ein Grafiktool als Accessories, dazu vielleicht noch einen Terminplaner, ein DFÜ-Programm und fertig. Leider bieten nur die wenigsten ACC-Tools den gewünschten Leistungsumfang. Eine Ausweichmöglichkeit wäre noch die Verwendung eines Multitasking-Systems wie es das Programm »MultiGEM« simuliert oder demnächst hoffentlich das »Multi-TOS«. Aber dann ist immer noch nicht die Frage der Datenübergabe geklärt...

Mittelklasse mangelhaft?

Wie gesagt, Spitzenleistungen, doch Leistungen in der Spitze können auch zeigen, daß man die Anforderungen im mittleren Bereich gut erfüllt. Selbst davon ist allerdings bei manchen Programmen nicht viel zu sehen. Da fehlt häufig die Tastaturbedienung für elementare Menüpunkte, obwohl man bei der Textverarbeitung normalerweise beide Hände auf der Tastatur hat. Ich kenne niemanden mit einer dritten freien Hand für die Maus, und es ist weder ergonomisch noch irgendwie einsichtig, warum man ständig mit einer Hand zwischen Tastatur und Maus hin und her pendeln soll. Nur weil ein Programmierer meint, eine grafische Benutzeroberfläche fordere gleichzeitig exzessiven Mausgebrauch? Auch in Sachen Tastaturbedienung scheiden sich die Geister. Die einen rufen UNIX, die anderen schreien Macintosh und die dritten machen, was sie wollen. Haben Sie einmal versucht, die Tastaturbelegungen verschiedener Programme einer Firma auswendig zu lernen? Wenn es wenigstens da immer eine einheitliche Richtung gäbe.

Was in Sachen Bedienung unklar ist, gelingt auch in punkto Funtionalität nicht viel besser. Bei der einen Textverarbeitung gibt es keinen vernünftigen Spaltensatz, bei der anderen keine Bildeinbindung. Hier fehlt eine Stichwort- und Inhaltsverzeichnis-Funktion, dort klappt der Umbruch von Fußnoten nicht. In Sachen Ausgabequalität kann nur »That's Write« mit einer Postscript-Version aufwarten. Wer einmal bessere Druckqualität als 300 dpi-Laser benötigt, der hat für die Textverarbeitung neben einem Systemwechsel praktisch keine Alternative. Oder er landet im DTP-Lager mit den vielen Vor- und Nachteilen, die alle gar nicht nötig sind. Um ein Buch zu setzen, braucht man nicht unbedingt DTP. In vielen Fällen bedeutet das nur, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Der Artikel über die »That's Write«-Postscriptversion zeigt, daß es nicht immer DTP sein muß. Doch meckern ist ja nicht alles. Konstruktivität ist angesagt. Deshalb nutzen wir die Gunst der Stunde und des Platzes, um Sie, liebe Leser, aufzufordern, sich selbst einmal kreative Gedanken zu machen. Wie sieht Ihre Wunsch-Textverarbeitung aus? Schreiben Sie uns im Laufe des nächsten Monats Ihre Ideen. Wir sammeln die Vorschläge und werden uns mit den Softwarehäusern zusammensetzen, um die Verwirklichung zu diskutieren. Schreiben Sie bis zum 20.7.1992 unter dem Stichwort TOS-Textverarbeitung. Vielleicht können wir Ihnen dann schon auf der Atari-Messe ein greifbares Ergebnis zeigen. (wk)

In eigener Sache

Liebe Leserin, lieber Leser, eigentlich sollte dieser Schwerpunkt Textverarbeitung so richtig schwer ausfallen. Leider sind wir gleich mehrfach Opfer geworden, und zwar einmal Opfer schleppender Programmierkunst, denn unter anderem wurde bis weit nach unserem Redaktionsschluß keine testfähige Version von »WordFlair II« fertig. Und zum anderen Opfer des Poststreiks. Ja, Sie lesen richtig. Erinnern Sie sich noch an den großen Frühjahrsstreik? Just zu dieser Zeit nämlich sind die Artikel für dieses Heft, das Sie gerade lesen, entstanden. Da die Post streikte, blieben einige wichtige Disketten mit sehr vielversprechender Testsoftware zu lange liegen. So können wir Ihnen leider nur einen reduzierten Schwerpunkt Textverarbeitung anbieten. Andererseits gibt es als Ausgleich dafür in der nächsten Ausgabe einen kräftigen Nachschlag, garniert mit ein paar schnuckeligen Text-Sahnehäubchen.

Ihr Wolfgang Klemme


Wolfgang Klemme
Aus: TOS 07 / 1992, Seite 112

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