← ST-Computer 06 / 1992

ST-Report: Der ATARI zÀhlt Photonen

ST-Report

In Laboratorien der UniversitĂ€ten und Forschungsinstitute sind unter den Einplatzcomputern meistens MS-DOS-Rechner in der Mehrzahl. Sie sind Schreibmaschinen, Terminals, sie steuern Versuche, nehmen Meßreihen auf, und man kann sie sogar zum Spielen gebrauchen. Nur selten ist ein anderer Rechner an eine Versuchsapparatur angeschlossen.

FĂŒr all diese unterschiedlichen Aufgaben werden MS-DOS-Rechner durch entsprechende Zusatzkarten tauglich gemacht. Zusatzkarten gibt es in großer Auswahl, so daß fast jede Aufgabe bewĂ€ltigt werden kann. Bei aufwendigeren Aufgaben hat die Karte selbst einen Prozessor, der die eigentliche Arbeit erledigt. Der Rechner fungiert dann nur noch als Terminal mit Massenspeicher. Eine solche Aufgabe lastet diesen Rechner voll aus, so daß er fĂŒr nichts Weiteres zu gebrauchen ist. Da die geforderte Funktion jedoch damit sichergestellt ist, wird die Eignung des Rechners fĂŒr eine solche Aufgabe nicht angezweifelt.

Was aber, wenn es fĂŒr eine spezielle Aufgabe keine entsprechende Karte gibt?

Die Freak-Lösung wĂ€re: Löten. Diese Lösung ist in einem Forschungslabor nur dann akzeptabel, wenn sich der notwendige Aufwand in Grenzen hĂ€lt. Leider ist das ein seltener Fall, und sogar dann ist die Entwicklung einer Spezialkarte keine Aufgabe fĂŒr einen Hobby-Bastler (Wissenschaftler sind gewöhnlich höchstens dies) und einen Sonntag nachmittag. Außerdem möchten die Forscher ihre Rechner benutzen und nicht bauen. Und werden 8086-Assembler kennt, weiß, daß man nach dem Löten noch lange nicht fertig ist.

Dieses Problem gab es auch im Institut fĂŒr Festkörperforschung des Forschungszentrums JĂŒlich. Bei der Aufnahme von Lichtstreuspektren war dort seit Jahren ein C64 eingesetzt. Doch halt, was ist eigentlich „ein Lichtstreuspektrum“, und was wird untersucht?

Das Problem

Im Institut fĂŒr Tieftemperaturphysik und Magnetismus des IFF werden unter anderem dĂŒnne magnetische Schichten und Schichtsysteme (mehrere Einzelschichten ĂŒbereinander) untersucht. Die Dicke der Schichten kann von einzelnen bis einigen tausend Angström (eine bis etwa hundert Atomlagen) variieren. Solche Schichten werden im Ultra-Hoch-Vakuum (bei etwa 10^-8 bis 10^12 mBar) auf ein Substrat (z.B. aus Galliumarsenid) epitaktisch aufgedampft.

Bei der Untersuchung dieser Proben ist die Kenntnis der inneren Anregungen des physikalischen Systems von Interesse. Diese Anregungen sind vergleichbar mit den Schwingungen der Saite eines Musikinstruments. Aus der Kenntnis der Grund- und Obertöne kann man auf die Art des Instruments schließen. Genauso erlaubt die Kenntnis der Anregungsenergien RĂŒckschlĂŒsse auf die Eigenschaften des untersuchten Materials. Diese Anregungen (=Energien) gilt es zu untersuchen, was mit Hilfe der in Bild 1 sichtbaren und im Bild 3 schematisch skizzierten Anlage erfolgt. In einem magnetischen Material gibt es Atome, die ein magnetisches Moment (Spin) ungleich Null haben. Dies bedeutet, daß solche Atome kleine Magnete sind. Um sie in einen magnetisch definierten Zustand zu bringen, richtet man sie mit Hilfe eines Ă€ußeren Magnetfeldes aus. Bringt man jetzt ein solches Atom aus der Ruhestellung, indem man es leicht verdreht, so pflanzt sich diese Störung in der gesamten Probe fort. Dieser Vorgang kann mit dem Zupfen der Saite verglichen werden, durch das die ganze Saite in Schwingungen versetzt wird.

Ebenso, wie die Schwingungsfrequenz der Saite von ihrer Spannung und Masse abhĂ€ngt, hĂ€ngt die Frequenz (=Energie) eines Magnons (so nennt man eine Anregung magnetischer Momente) von dem Ă€ußeren Magnetfeld und der magnetischen Kopplung zwischen einzelnen Spins ab. Die Spinkopplung gehört zu den interessantesten GrĂ¶ĂŸen, die eine magnetische Substanz kennzeichnen.

Bild 1: Die Apparatur zur Lichtstreuung

Ein Billardspiel

Genau wie man eine Saite auf verschiedene Weise in Schwingungen versetzen kann (durch Zupfen, Schlagen oder Streichen), kann man auch Magnonen auf verschiedene Weise erzeugen. In dem hier besprochenem Fall erfolgt das mit Licht (Photonen). Das Licht entstammt einem Argon-Ionen-Laser und trifft die Probe unter einem Winkel von 45°. Der Großteil der Photonen (Lichtteilchen) prallt, Ă€hnlich wie eine Billardkugel an der Bande, elastisch von der Probe ab. Diese Photonen verĂ€ndern ihre Energie nicht. Sie folgen grĂ¶ĂŸtenteils dem Reflexionsgesetz und prallen um 90° abgelenkt (gestreut) von der Probe ab. Einige Photonen jedoch regen die Probe an und geben einen Teil ihrer Energie an sie ab. Sie werden an der Probe inclastisch gestreut und folgen nicht mehr dem Reflexionsgesetz. Dieser Vorgang ist mit dem Zusammenstoß zweier Billardkugeln vergleichbar, von denen die Lage und Masse der zweiten Kugel vor dem Zusammenstoß unbekannt ist, weswegen die Bahn der ersten Kugel nach diesem Stoß zufĂ€llig ist. Man kann aber aus dieser Bahn die Masse der zweiten Kugel bestimmen. Genauso ist es möglich, aus der Änderung der Frequenz der Photonen auf die Energie des Stoßpartners zu schließen.

Die inelastisch gestreuten Photonen werden mit einem Kleinbildkameraobjektiv gesammelt und ĂŒber eine optische Bank zu einem Interferometer gefĂŒhrt. Das Interferometer lĂ€ĂŸt nur Photonen einer bestimmten, einstellbaren WellenlĂ€nge durch. In dem beschriebenem Fall handelt es sich um ein Tandem-Fabry-Perot-Interferometer (Bild 2). Diese Anordnung liefert eine der besten heutzutage möglichen Auflösungen des Lichtspektrums. Das Interferometer besteht eigentlich aus zwei mechanisch miteinander gekoppelten Fabry-Perot-Interferometern.

Ein Fabry-Perot-Interferometer wiederum besteht aus zwei planparallelen halbdurchlĂ€ssigen Spiegeln. Die Einstellung der durchgelassenen WellenlĂ€nge erfolgt durch AbstandsĂ€nderung der Interferometerspiegel. Die Verstellung der Spiegel muß mit einer subatomaren Genauigkeit (-1011m)erfolgen, um die Auflösung des Interferometers voll ausnutzen zu können. Diese wird zusĂ€tzlich erhöht, indem man den Lichtstrahl insgesamt dreimal durch das Spiegelpaar fĂŒhrt. Die Einstellung der Spiegel erfolgt mit piezoelektrischen Elementen und wird von einem dazugehörigen SteuergerĂ€t ĂŒberwacht.

Bild 2: Das Tandem-Fabry-Perot-Interferometer

Nachdem das Licht das Interferometer verlassen hat, fÀllt es auf einen Photovervielfacher. Dieser ist imstande, einzelne Photonen nachzuweisen. Obwohl pro Sekunde etwa 5*1017 Photonen den Laser verlassen, ist eine so hohe Empfindlichkeit notwendig, weil je nach Probe nur ein paar hundert bis ein paar tausend dieser Photonen an Magnonen gestreut werden und das Interferometer auch erreichen. In der gleichen Zeit aber kommen beim Interferometer auch etwa 108 nicht an Magnonen gestreute Photonen an. Es handelt sich dabei hauptsÀchlich um zwar elastisch, aber nicht dem Reflexionsgesetz entsprechend gestreute Photonen.

Die Aufgabe des Interferometers ist es, die Photonen voneinander zu trennen. Die Magnonen Ă€ndern die LichtwellenlĂ€nge um ~0.01nm. Um diese Änderung genau zu messen, wird der Abstand der Interferometerspiegel und damit die durchgelassene WellenlĂ€nge (Energie, Frequenz) so verĂ€ndert, daß der gewĂŒnschte WellenlĂ€ngenbereich abgescannt wird. Dieses Scannen geschieht gewöhnlich in 1024 Schritten (=KanĂ€len), was einem WellenlĂ€ngenbereich von 514.47nm bis 514.53nm entspricht. In jedem Kanal verweilt das Interferometer eine Millisekunde. Diese Einstellung bedeutet, daß nur ein Tausendstel aller das Interferometer erreichenden Photonen des gemessenen Spektralbereichs es auch verlassen. Oder anders ausgedrĂŒckt: bei einem einzelnem Scan kommt statistisch weniger als ein einzelnes an einem Magnon gestreutes Photon zum Photovervielfacher. TatsĂ€chlich aber werden fĂŒr eine Aussage ĂŒber die Energie der Magnonen ein paar hundert bis tausend solcher Photonen gebraucht.

Die Apparatur, die jetzt noch fĂŒr die Aufnahme der Meßdaten gebraucht wird, sieht theoretisch einfach aus. Man braucht 1024 ZĂ€hler, die die Impulse in den 1024 KanĂ€len hochzĂ€hlen. Dadurch, daß die Impulse jeweils in nur einem Kanal ankommen, kann man auch einen ZĂ€hler mit 1024 Speicherstellen, in denen nacheinander (den jeweiligen KanĂ€len entsprechend) die Impulse des Photovervielfachers hochgezĂ€hlt werden. Da die notwendigen Kanalfortschaltimpulse so wie der RĂŒcklaufimpuls von dem SteuergerĂ€t geliefert werden, ist der logische Aufbau der ZĂ€hlapparatur relativ einfach. Es drĂ€ngt sich dabei auf, fĂŒr diese Aufgabe einen Computer zu benutzen. Er muß nur in der Lage sein, die Impulse, die an den drei AusgĂ€ngen (ZĂ€hl-, Kanalfortschalt-, und RĂŒcklaufimpuls) liegen, zu zĂ€hlen und daraus ein Spektrum (speziell: Lichtstreuspektrum) zu berechnen (ein Spektrum ist ein Diagramm, in dem die IntensitĂ€t in AbhĂ€ngigkeit von der WellenlĂ€nge dargestellt wird).

Die Lösung

Die erste Lösung war der bereits erwĂ€hnte C64. Versehen mit einer kleinen Zusatzplatine mit zwei Optokopplern (der Kanalfort schaltimpuls wurde intern erzeugt) tat er ĂŒber Jahre (fast bis Ende 1990) zuverlĂ€ssig seinen Dienst. Das zugehörige in Assembler und BASIC geschriebene Programm erlaubte den Ausdruck des Spektrums. Der C64 erreichte mit diesem Programm rechengeschwindigkeitsbedingt eine Auflösung von nur 300 KanĂ€len. Sein grĂ¶ĂŸtes Manko war aber die Unverdaulichkeit seiner Disketten fĂŒr einen MS-DOS-PC, womit eine weitere Auswertung (Fitten usw.) der Spektren nicht möglich war. Auch die Auflösung von 300 KanĂ€len war zu gering. Man suchte also nach einer besseren Lösung.

Bild 3: Schematische Darstellung der Messapparatur

Ein IBM-PC als Alternative?...

Die gebrĂ€uchlichste Lösung wĂ€re der Einsatz eines IBM-PCs mit einer entsprechenden Zusatzkarte. Klar war, daß diese etwas aufwendiger sein mĂŒĂŸte als die kleine Platine vom C64; aber mit einem 8-Bit-ZĂ€hler, der jede Millisekunde abgefragt wird, sollte es klappen. Diese Vermutung wurde aber von den hausinternen PC-Spezialisten schnell korrigiert: „Wie oft soll er abgefragt werden? Mit einem Kilohertz? Geht nicht. Nicht mit MS-DOS. Vielleicht mit UNIX auf ‚nem Modell 80. Besser wĂ€re dann dazu auch eine Karte mit einem UniversalzĂ€hler. Am besten aber eine Multichannel-Analyzer-Karte mit einem eigenen Prozessor. Dann kann man auch bei MS-DOS bleiben, und das Programmieren wird einfacher. So eine Karte kostet nur 8 Kilomark, und man hat keine Probleme mehr.“ Wirklich keine Probleme?

Nun, Probleme gab es doch: es gab kein ĂŒberschĂŒssiges Modell 80. Auch waren 8000 DM plus die zusĂ€tzlichen Kosten eines 386ers etwas viel, um im Nachhinein noch einen Programmierkrieg gegen MS-DOS oder PC-UNIX zu fĂŒhren. Jedenfalls gab es dafĂŒr keinen Freiwilligen.

... oder vielleicht ein ST?

Als ich die Verwendung eines ATARIs vorschlug, glaubte mir natĂŒrlich niemand so recht, daß das klappen könnte. Und das, obwohl privat in unserer Gruppe drei ATARIs vorhanden sind. „Einen Home-Computer, der eine Weiterentwicklung eines Videospiels ist, kann man doch nicht fĂŒr Meßaufgaben gebrauchen“ - lauteten die Bedenken. Das Argument: „Ein Videospiel ist computertechnisch anspruchsvoller als eine elektronische Schreibmaschine; und wenn das Problem mit deren Weiterentwicklung lösbar sein soll, warum denn dann nicht mit einem ST?“ ĂŒberzeugte die UnglĂ€ubigen so weit, daß ein Versuch mit einem privatem 1040er gestartet werden sollte.

Zuerst plante ich eine kleine Platine mit einem ZĂ€hler und einer Dekodierlogik, die an den ROM-Port anzuschließen wĂ€re. Doch die Interrupt-Belegung des MFP suggerierte eine bessere Lösung: weil die RI-, CTS- und DCD-EingĂ€nge der seriellen Schnittstelle direkt mit Interrupts des MFP verbunden sind, vereinfachte das die Lösung fast auf das C64-Niveau. Mit anderen Worten: jeder Eingang erhielt einen Optokoppler mit jeweils einem vor- und nachgeschalteten Treiber. Notwendig wurde noch eine zusĂ€tzliche Schaltung, die zur VerlĂ€ngerung der sehr kurzen Impulse des Photovervielfachers dient.

Auch die AusgĂ€nge DTR und RTS wurden ĂŒber Optokoppler und CMOS-Treiber nach außen gefĂŒhrt. Über diese AusgĂ€nge wird in einstellbaren Teilbereichen des Spektrums die Verweilzeit pro Kanal um den Faktor 10 erhöht. D.h. daß pro Durchgang zehnmal mehr der interessanten (an Magnonen gestreuten) Photonen den Photo Vervielfacher erreichen. In der Praxis bedeutet das eine VerkĂŒrzung der gesamten Meßzeit um den Faktor 2 bis 8. Dies wĂ€re mit einem PC unter MS-DOS gar nicht machbar, da MS-DOS im Millisekundenbereich nicht reagieren kann (eine SekretĂ€rin mit 1000 AnschlĂ€gen pro Sekunde gibt es ja nicht).

Zu dieser „komplizierten“ Interface-Elektronik gehört natĂŒrlich noch ein Programm. Erst dieses Programm macht aus einem MEGA-ST tatsĂ€chlich einen Vielkanalanalysator. Es ist bis auf die Interrupt-Routinen in C geschrieben und voll GEM-eingebunden. Die Datenerfassung und Darstellung lĂ€uft dabei dank der Verwendung von Interrupts und Co-prozessen im Hintergrund ab. Das macht die Bedienung des Programms auch fĂŒr GĂ€ste, die nur wenige Messungen durchfĂŒhren möchten, problemlos. Besonders fĂŒr Anwender, die bisher nur mit MS-DOS und Großrechnern zusammenkamen, ist die BenutzeroberflĂ€che des Programms ein Grund zum Staunen. Sogar die Frage nach dem Software-Haus, das solche BenutzeroberflĂ€chen schreibt, ist aufgetaucht.

Doch nicht ums Staunen und auch nicht um eine Show-ErgĂ€nzung einer 105-DM-Apparatur geht es hier. Der ATARI erleichtert die Arbeit und liefert bessere Ergebnisse als bisher erreichbar. So konnte z.B. bereits mit der ß-Testversion des Programms (bei den ersten erfolgreichen Messungen mit dem 1040er) dank der höheren Auflösung und der entsprechenden Auswertprogramme (auf einem PS2-Rechner) ein bis dahin nur vermuteter Effekt in Eisen-Chrom-Eisen-Schichten bestĂ€tigt werden. Die Möglichkeit zur Verzehnfachung der Fortschaltzeit in ausgewĂ€hlten KanĂ€len macht sich vor allem bei Messungen an Proben mit einer geringen IntensitĂ€t der an Magnonen gestreuten Photonen positiv bemerkbar. Auch die Aufnahme von Meßreihen (20 bis 40 Messungen an verschiedenen Stellen derselben Probe) dauert keine Tage mehr, sondern nur noch Stunden. Es kommen bereits Fragen nach der Möglichkeit einer automatischen Positionierung der Probe auf.

Die Verwendung eines ST erwies sich als Erfolg auf der ganzen Linie. Nur unter den PC Usern gibt es manchmal Bedenken. Sie können sich oft nur schwer mit einen „Spielcomputer“ an einer Meßapparatur oder mit einem Programm, das man ohne Handbuch und EinfĂŒhrungsseminar bedienen soll, anfreunden. Deswegen beantwortete ich die Frage eines Gastes: „Why do you use an ATARI, not a PC?“ einfach mit „Because it’s a better Computer. But it’s a secret, and only a few people know it“

Literatur:

In „Die seltsame Theorie des Lichts und der Materie “ von Richard P. Feynman, erschienen 1988 im Piper Verlag, wird die Funktionsweise eines Interferometers und die Wechselwirkung von Licht und Materie sehr schön erklĂ€rt.

Sollte dieses Buch den Wissensdurst nicht stillen, so erhĂ€lt man weitere Informationen zum Programm und zur Meßapparatur hei:

Roland Mosler
Hohe Straße 140
5010 Bergheim 12

Bild 4: Ein typisches Spektrum wÀhrend der Messung
Roland Mosler