Expertensysteme: Robin Hood im Mietdschungel

Das weltweit erste juristische Expertensystem für den ST kommt aus Bonn: Herzstück des elektronischen Rechtsberaters, der an der »Forschungsstelle für Juristische Informatik und Automation« entwickelt wurde, ist das multifunktionale Datenbanksystem »1 st Card«. Es könnte Anwalts Liebling werden.

JO FREDERIK UND EGBERT MEYER

Das Mietkündigungsrecht gehört zu den sensiblen Bereichen bundesdeutscher Rechtsprechung. Selbst Juristen sind da nicht immer sattelfest. Sechs Studenten, Referendare und Doktoranden der Universität Bonn machten nun aus der Not eine Tugend. In zweijähriger Arbeit entwickelten sie einen kompetenten Ansprechpartner für Berater und Ratsuchende: das Expertensystem »Jurex Miete« — gesteuert von einem Atari-Computer.

Gerhard Oppenhorst, Spiritus Rector des ehrgeizigen Unternehmens und 1st-Card-Entwickler, hält Jurex sogar »für ein Jedermann-Produkt«. Ein Expertensystem auch für Laien? Der Jurist und Programmierer in Personalunion sieht darin keinen Widerspruch: »Jurex verfügt über alle Voraussetzungen intuitiver Erlernbarkeit. Neben Rechtsanwälten kann davon prinzipiell jeder profitieren. Ganz gleich, ob er Student, gestandener Jurist, Beauftragter einer Mieterberatungsstelle oder Untermieter im Studentenwohnheim ist.«

Rechtsunsicheren Mietern indes dürfte der 1500 Mark teure elektronische Rechtsberater derzeit noch ein zu kostspieliger Spaß sein. Zudem auch die folgerichtige Interpretation verzwickter Gesetzestexte oder Präzedenzurteile hohe Anforderungen stellt: »Die Schwierigkeit besteht jeweils darin, Vermieter- und Mieterinteressen gleichermaßen zu berücksichtigen, um die Gefahr einer falschen Einschätzung des Prozeßrisikos zu reduzieren. Da es sich zumeist um eine soziale und existentielle Problematik handelt, kann falsche Beratung schwerwiegende Folgen haben«, räumt Oppenhorst deshalb auch ein.

Jurex erfüllt konzeptionell eher die Bedürfnisse des Mieterschutzbundes: »Dort erhalten Mieter von Fachleuten guten Rat, der nicht teuer ist. Sie können ihre Situation einschätzen lassen, ohne gleich einen Anwalt zu bemühen.«

Und so könnte demnächst ein Besuch beim Mieterschutzverein aussehen: Der Berater am ST-Terminal wird zum Datenbankrechercheur. Die Gesprächsführung übernimmt Jurex. Ist im Mietvertrag vereinbart, daß der Mieter zu einem bestimmten Zeitpunkt oder nach Ablauf einer bestimmten Zeitdauer aus der Wohnung ausziehen muß? Hat der Vermieter die Kündigung schriftlich erklärt? Das System fordert bis zur detaillierten Analyse der Mietsituation zu ständiger Interaktion auf. Erst nach Klärung einzelner Sachlagen gibt’s jeweils profunde Systemrückmeldungen: Gesetzestexte, Präzedenzurteile oder bei uneindeutiger Rechtslage Kommentare zum juristischen Meinungsstreit.

Expertensystem für jedermann. Die fünf Entwickler von »Jurex Miete«

Der Fragenkatalog von Jurex Miete umfaßt mehr als 1000 Karten. Dank seiner modularen Baumstruktur stellt das intelligente System nur solche Fragen, die durch vorangegangene Antworten nicht bereits überholt sind.

In dem kleinen Bonner Institut scheint ein Alptraum wahr geworden: Der Computer entscheidet über Rechtsfragen, der Mensch ist nur noch Handlanger. Oppenhorst indes beschwichtigt: »Unser Recht entspricht in weiten Teilen einem abstrakten logischen Gerüst, das sich sehr gut in Regeln fassen läßt. In vielen Fällen stößt man jedoch an eine Grenze, etwa, wenn in Gesetzen für den Richter bewußt individuelle Entscheidungsspielräume gelassen wurden oder Begriffe nicht exakt legal definiert sind.«

Auch Jurex Miete stößt an solche Grenzen: Kündigt etwa ein Vermieter wegen Eigenbedarfs, so muß nach herrschender Rechtsauffassung geprüft werden, ob dieser Eigenbedarf nicht etwa selbstverschuldet ist. In der Rechtssprechung existieren jedoch verschiedene Meinungen darüber, unter welchen Umständen ein Vermieter für seinen Eigenbedarf die Schuld selbst zu tragen hat. Hier stellt Jurex die wesentlichen Rechtsauffassungen gegeneinander und zitiert Beispielurteile aus der Vergangenheit. Benutzern wird damit die Einschätzung erleichtert. Letztendlich können nur sie durch Auslegung oder Analogieschlüsse abschließend über den konkreten Fall entscheiden.

Oppenhorst sammelt auf dem Gebiet »Juristische Expertensysteme« seit geraumer Zeit Erfahrungen. Vor zwei Jahren initiierte er an der Universität Bonn eine Arbeitsgemeinschaft, die Ju-rex in kontinuierlicher Arbeit von der Planung bis zur Serienreife brachte. Der Doktorand trat damit in die Fußstapfen seines Mentors Prof. Dr. Dr. Herbert Fiedler, einem bundesweit gefragten Fachmann für Rechtsinformatik und Datenschutz.

Was ist das Besondere an Jurex? Oppenhorst wiegt bedächtig den Kopf: »Expertensystemsoftware ist nicht unbedingt etwas sensationell Neues. Irgendwann stellte ich jedoch fest, daß die meisten Programme Juristen nicht zumutbar waren.« Deshalb entwickelte er eine Software von Juristen für Juristen. »Normalerweise sind Juristen nicht gerade der Prototyp des eigenbrötlerischen Programmierers.«

1st Card, die Entwicklungsoberfläche für die Jurex-Module, brachte er in fünf Jahren vom Entwurf bis zur Serienreife. Das Programm bedient Anwender mit Karteikarten von der Größe einer Bildschirmseite und erlaubt per Mausklick die Generierung beliebiger transparenter GEM-Buttons, die sich z.B. über Textstellen legen lassen.

Den Buttons weist 1st Card während des Programmlaufs einen logischen Wert zu und verknüpft sie mit logischen Operationen.

Das Ergebnis einer solchen Verknüpfung ergibt den Wert der gesamten Karte. Je nach Status läßt sich in beliebige andere Karten verzweigen. Darüber hinaus rufen Buttons ganze Kartensysteme auf. Im Klartext: 1st Card pflanzt logische Bäume und knüpft Netze.

Zwei Elemente Künstlicher Intelligenz erleichtern die Arbeit:

  1. Eine spezielle Routine verhindert »Zirkelschlüsse«; das sind Regeln, die sich gegenseitig aufrufen und bei denen das Programm in eine Endlosschleife gerät. Rund 1000 Regeln verkraftet Jurex, bei 1st Card liegt die maximale Obergrenze sogar bei 64000.
  2. Ein »Backtracking-Algorithmus« sorgt zusätzlich dafür, daß das Programm am Ende eines logischen Zweigs automatisch zum Stamm zurückkehrt.

Mit »Hypertext-Buttons« lassen sich in einem Text Worte markieren. Beim An-klicken verzweigt das Programm zu einer Textkarte.

Die integrierte Volltextdatenbank liefert zu einem beliebigen Suchwort in Sekundenbruchteilen alle Referenzstellen aus Volltext-Files, die bis zu 128 MByte groß sein dürfen.

Obwohl sich die Jura-Studenten um eine verständliche Sprache bemühen, kommen sie zwangsläufig nicht ohne Fachbegriffe aus. Worte wie »Nießbraucher«, »Beweislastverteilung« oder »Rechtssprechungsnachweis« sagen dem Laien nichts und sind deshalb mit Hypertext-Buttons unterlegt. Klickt man sie an, wird eine dezidierte Erläuterung eingespielt.

Mittlerweile gibt es mehrere Anwendungen, die die ausgeklügelten Suchfunktionen von 1st Card nutzen: Vor allem innerhalb längerer Textdateien erleichtert die Software die Orientierung. Das gilt auch für ASCII-Dateien bedeutender Druckwerke oder Gebrauchstexte, wie z.B. die Brockhaus-Ausgabe der Neuen Elberfelder Bibelfassung oder den Text des Einigungsvertrags. Ein schier unerschöpfliches Einsatzgebiet:

Beliebige Texte, die über Scanner in den Computer eingelesen werden, lassen sich innerhalb der Datenbank verwenden.

Die Bonner Studenten, die an den Jurex-Modulen mitgewirkt haben, waren zu Beginn des mittlerweile erfolgreichen Unternehmens nicht gerade computerbegeistert: »Zunächst habe ich einen großen Bogen um den Computer gemacht«, berichtet die einzige Frau der Runde. Elizabeth Doerr steht nach sechs Semestern bereits vor dem Studienabschluß und hat für Jurex Miete das Modul »Besonderer Mietkündigungsschutz« geschrieben. Mittlerweile ist auch für sie der ST ein unverzichtbarer Helfer.

Auch ihre Kommilitonen haben nur für einzelne Bereiche des Generalthemas Module erstellt. Anders war die komplizierte Rechtslage nicht in den Griff zu bekommen. Ulrich Herlitz spezialisierte sich auf die »Kündigungsschutzklausel«, Doktorand Ralf Coenen auf »außerordentliche Kündigung«. Von Peter Veith kam Erhellendes zur »Sozialklausel«, dem letzten Rettungsring aller Gekündigter. Die Grundstruktur des Expertensystems und dessen oberste Entscheidungsinstanz entwarf Referendar Ralf Wiegand (s. Abb.).

»Es war uns wichtig, daß sich unser System auch in der Praxis einsetzen läßt«, sagen die Entwickler: »Deshalb haben wir das Mietrecht und hier speziell das Kündigungsrecht ausgesucht. Davon kann jeder einmal betroffen sein.« Damit künftige Benutzer von Jurex Miete das Programm ohne Komplikationen verstehen, haben die Studenten auf eine komfortable Benutzerführung geachtet.

Für Experten: Ablaufdiagramm von Jurex Miete

Um dem Atari Mietrecht einzupauken, mußten die Jura-Studenten Gesetzestexte in logische Strukturen auflösen und Rechtslücken aufspüren. »Nicht nur die sechs Programmierer, auch die Teilnehmer unserer Seminare bestätigen, daß sie viel über das behandelte Rechtsgebiet gelernt haben. Vor allem über den abstrakten Aufbau des Rechts«, resümiert Oppenhorst.

Doch auch Pragmatisches können die Jurex-Juristen ihrem Engagement abgewinnen: »Ich habe mich eigentlich schon immer für Computer interessiert. Da kam mir eine solche Gelegenheit gerade recht, um das ziemlich theoretische Studium ein bißchen aufzulockern«, meint Ralf Wiegand. Elizabeth Doerr prophezeit sogar: »Ich glaube, daß der Anwaltsberuf in Zukunft stärker von Computern geprägt wird. Schon deshalb hat sich die ganze Sache gelohnt.«

Für Anwälte, die sich nicht auf Mietrecht spezialisiert haben und nur wenige Kunden in diesem Bereich vertreten, kann die Anschaffung des kleinen Expertensystems sinnvoll sein. Für sie bietet Jurex ein besonderes Feature: Es lassen sich ins Jurex-System Schnittstellen zur deutschen Juris-Datenbank integrieren.

Auch Vermieter können von den Fähigkeiten des Expertensystems profitieren

Einen weiteren Anwenderkreis wollen die Systementwickler ansprechen: Auch Vermieter können von Jurex profitieren. Bei Mietstreitigkeiten übernehmen sie oberflächlich betrachtet zwar immer den Part des bösen Buben. Oppenhorst gibt allerdings zu bedenken, daß »das bundesdeutsche Mietrecht aus meiner Sicht extrem mieterfreundlich ist«. Immerhin räume es sowohl Vermieter wie auch Mieterinteressen großen Raum ein. Dies sei noch lange nicht in jedem europäischen Land an der Tagesordnung.

Daß am Ende jeder zu seinem guten Recht kommt, dafür sorgt nicht zuletzt auch Jurex-Miete, der Streiter für Recht und Gesetz im ansonsten unübersichtlichen Mietdschungel. (em)



Aus: ST-Magazin 07 / 1991, Seite 32

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